Von Fjodor Lukjanow
Die Europäische Union hat vergangene Woche einen Gipfel abgehalten, bei dem es darum ging, der Ukraine erneut zeitlich unbeschränkte Unterstützung zu suggerieren. Ungarn stellte sich zwar quer, aber auch sein Widerstand hielt sich in Grenzen. Aus Gründen des Prestiges und um strategische Geschlossenheit zu demonstrieren, war es für die EU von entscheidender Bedeutung, die geschlossene Zustimmung zur langfristigen Finanzierung der Ukraine einzuholen.
Das Gipfeltreffen der EU spiegelte zudem ein interessantes Phänomen wider: Einen tiefen Graben zwischen den Plänen der westeuropäischen herrschenden Eliten und den Bedürfnissen und Nöten der von ihnen regierten Bürger. Während in Brüssel über Hilfen für die Ukraine beraten wurde, fluteten in Frankreich und in den Benelux-Staaten Bauern die Straßen und Deutschland wurde von einer Reihe von Streiks lahmgelegt. Natürlich ist das nicht auf die Situation in der Ukraine zurückzuführen, sondern auf den allgegenwärtigen Rückgang der Lebensqualität in der EU.
Der Europäische Rat für Auswärtige Beziehungen (ECFR), eine einflussreiche transnationale NGO, hat eine Analyse soziologischer Umfragen veröffentlicht, die einen Hinweis auf den Ausgang der Wahlen zum Europäische Parlament im Juni geben. Um es deutlich zu sagen: Es ist nicht das Europäische Parlament, das die Politik und die Aussichten für die weitere Zukunft der EU bestimmt. Wie auch immer die europäische Politik letztendlich aussehen wird, revolutionäre Änderungen sind von der diesjährigen Europawahl nicht zu erwarten.
Die Besonderheit der gesamteuropäischen Wahlen liegt jedoch darin, dass Bürger letztlich mit dem Herzen abstimmen und nicht mit Blick auf ihre Geldbörse, wie es bei Wahlen zu nationalen Parlamenten der Fall wäre. Bei nationalen Wahlen hängt das unmittelbare Wohlergehen der Wähler von dem Wahlergebnis ab, weshalb jene, die am meisten Erfahrung mitbringen, oft den Klugen vorgezogen werden. Aber ein Abgeordneter im EU-Parlament bestimmt nichts im Leben eines gewöhnlichen Europäers. Deshalb können die Bürger bei der Europawahl ihrem Bauchgefühl freien Lauf lassen und für diejenigen, die sie wirklich mögen, ohne Angst vor einer Destabilisierung des realen Lebens stimmen. Mit anderen Worten: Wahlergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament sind ein guter Indikator für die tatsächliche Stimmung in den Ländern der EU.
Die Autoren der ECFR-Studie gehen davon aus, dass die Wahl im Juni einen starken Rechtsruck zeigen wird, und zwar nicht in Richtung eines gemäßigten Konservativismus, sondern hin zu rechtsextremen Parteien, die gemeinhin als Populisten bezeichnet werden. Viele ihrer Wähler gehören zur Kategorie der Euroskeptiker. Die Studie geht zudem davon aus, dass ein solcher Rechtsruck vor allem in neun von insgesamt 27 EU-Staaten vollzogen werden wird, in neun weiteren wird eine deutliche Stärkung der Rechtspopulisten erwartet. Im Europäischen Parlament selbst dürfte sich somit zum ersten Mal seit 45 Jahren eine rechtskonservative Mehrheit bilden, die von Christdemokraten über klassische Konservative bis hin zu Nationalradikalen reichen wird.
Dies bedeutet jedoch nicht die Bildung eines "festen Blocks". Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Gemäßigten auf die Extremen einlassen werden. Aber der gesellschaftliche Rechtsruck ist unbestreitbar.
Dieser Rechtsruck ist ein Beweis für die Desillusionierung gegenüber dem Establishment, das trotz einer Fülle beeindruckender gesellschaftspolitischer Entwicklungen in mehr als drei Jahrzehnten sich kaum erneuert hat. Nach dem Kalten Krieg kam es zu einer Nivellierung innerhalb der verschiedenen Parteiprogramme. Zuvor klar abgrenzbare Sozialisten, Konservative oder Liberale, deren Ansätze zwar nicht antagonistisch waren, aber doch Unterschiede aufwiesen, wurden in einen einheitlichen Mainstream gepresst.
Die europäische Integration, angetrieben durch den weltweiten Prozess der Globalisierung, hat die politische Variabilität nahezu beseitigt. Der akzeptierte politische Korridor wurde zunehmend von externen Strukturen bestimmt und Entscheidungen wurden immer häufiger auf supranationaler Ebene, oberhalb der Regierungen der einzelnen Staaten, getroffen. Die Fähigkeit nationaler Staatenlenker, den Erwartungen ihrer Bürger gerecht zu werden, hing zunehmend nicht allein von ihrer Fähigkeit ab, mit der eigenen Bevölkerung zu arbeiten, sondern auch von ihrem Geschick im Umgang mit der höheren, supranationalen Ebene ab, insbesondere von dem Aushandeln von Zugeständnissen und Privilegien im zentralisierten Brüssel.
Solange die Menschen in der EU die Vorteile der Globalisierung genießen konnten und die Politik ihnen gegenüber klar darzulegen vermochte, wie vorteilhaft die neuen Schritte zur Integration für sie persönlich wären, war Establishment-Kritik die Domäne einer marginalisierten Minderheit. Allerdings veränderte die Krise des globalen Systems, die sich ab Mitte der 2000er Jahre in verschiedenen Formen zu manifestieren begann, die Dynamik innerhalb der einzelnen Gesellschaften in der Europäischen Union. In dieser Zeit entstand und blühte das moderne Konzept des "Populismus" auf, als sich eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesellschaft herausbildete, mit dem Gefühl, die "richtige" gesellschaftspolitische Ordnung zu repräsentieren.
Populismus als Appell an die Massen gegen die Monopolisierung des Einflusses durch Eliten ist ein althergebrachtes Phänomen. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts begannen diese Eliten im Geiste des sogenannten "Endes der Geschichte", ihre eigene Linie als die einzig wahre und legitime wahrzunehmen. Demnach handeln diejenigen, die sich dagegen stellen, entweder vorsätzlich im Unrecht oder vorsätzlich böswillig. Auf diese Weise hat der Widerstand gegen den Populismus zu heftigen politischen Auseinandersetzungen geführt.
Für die EU entstand hier ein gefährlicher Widerspruch. Die "falsche" politische Linie, lassen wir diese Einordnung für einen Moment gelten, spiegelt immer mehr das wider, worüber sich die Europäer Sorgen machen – vom Dilemma der Migration bis hin zu den akuten wirtschaftlichen Problemen, die durch die Aufgabe traditioneller Energiequellen verursacht sind. Der "richtige" Standpunkt, der auf die Erfüllung der geopolitischen Verpflichtungen der Union abzielt, scheint für einen wachsenden Teil der Bevölkerung dieser EU keine Priorität zu haben. Zumal diese Verpflichtungen eine untergeordnete Rolle der EU innerhalb der der atlantischen Gemeinschaft implizieren.
Bisher ist es dem westeuropäischen Mainstream gelungen, seine Agenda durchzusetzen, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten. Doch wenn man den Ergebnissen der oben genannten Umfrage Glauben schenken darf, wird dies in Zukunft nicht mehr der Fall sein. Das bedeutet, dass die Europäischen Union sich in naher Zukunft auf weitere Turbulenzen einstellen muss.
Aus dem Englischen.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs", Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor am Internationalen Diskussionsklub Waldai.
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