Von Andrew Korybko
Kiew hat am vergangenen Mittwoch ein Transportflugzeug des russischen Militärs vom Typ Il-76 mit 65 ukrainischen Kriegsgefangenen an Bord abgeschossen, als es die Grenzregion in der Nähe der russischen Stadt Belgorod überflog. Berichten zufolge wurden bei dem Abschuss, der mit großer Sicherheit mithilfe US-amerikanischer Hilfe durchgeführt wurde, eine Rakete vom Typ Patriot eingesetzt. Das Regime in Kiew war im Voraus über diesen Flug informiert und wusste, dass es gefangen genommene ukrainische Soldaten an Bord hatte. Der geplante Gefangenenaustausch wurde in der Folge abgesagt, und es kamen Fragen auf, warum Kiew seine eigenen Leute töten lässt.
Der US-Nachrichtensender CNN deutete lächerlicherweise an, dass es sich um einen Fall von "Friendly Fire" – Eigenbeschuss – gehandelt haben könnte, ausgelöst durch eine kurz zuvor erlassene Warnung vor einem ukrainischen Luftangriff und den Abschuss einer ukrainischen Drohne, rund eine Stunde vor dem Vorfall. Ukrainische Quellen hingegen haben die Verschwörungstheorie verbreitet, dass das Flugzeug angeblich Raketen für das S-300-Luftverteidigungssystem an Bord hatte. Das erste Narrativ soll am Ruf der russischen Streitkräfte kratzen, während das zweite Narrativ eine "gesichtswahrende" Version darstellt, um von der Schuld Kiews an dem, was passiert ist, abzulenken.
Eine realistischere Interpretation ist, dass sich die Taktik der USA in ihrem Stellvertreterkrieg in der Ukraine gegen Russland geändert hat, nachdem die Kriegshandlungen Ende vergangenen Jahres in ihrer Intensität nachließen und nach der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive die Ukraine wieder in die Defensive gedrängt wurde. Diese Theorie hat jedoch auch ihre Schwachstellen, nachdem Berichten zufolge im vergangenen Mai fünf russische Militärflugzeuge von Patriot-Raketen über der Grenzregion Brjansk abgeschossen wurden. Der jüngste Vorfall wäre vorneweg genommen somit nichts Neues, außer dass 65 ukrainische Kriegsgefangene bei diesem Abschuss umgebracht wurden, obwohl Kiew davon wusste, dass sie an Bord waren.
Die Einzelheiten dieses Vorfalls lassen daher den Verdacht aufkommen, dass diese bemitleidenswerten Kriegsgefangenen absichtlich von der ukrainischen Luftverteidigung ins Ziel genommen wurden. Der Hintergrund des Geschehens ist wohl, dass der russische Auslandsgeheimdienst am vergangenen Montag eine anstehende bürokratische Umbildung in Kiew vorhersagte – einen Tag bevor ein ehemaliger Beamter des Pentagons über Gerüchte berichtete, dass Selenskij seinen Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Waleri Saluschny, aus dem Amt entfernen möchte.
Stephen Bryen, der als Stabsdirektor des Unterausschusses für den Nahen Osten im Ausschuss für auswärtige Beziehungen des US-Senats und als stellvertretender Verteidigungsminister diente, ist derzeit am Zentrum für Sicherheitsstrategie am Yorktown Institut tätig. In dieser Funktion veröffentlichte er einen Artikel auf seinem Substack-Blog. Ihm zufolge möchte der ukrainische Staatschef den Oberbefehlshaber seiner Armee durch den Chef des Militärgeheimdienstes, Kirill Budanow, ersetzen und versucht dies, indem er Saluschny für die Verluste auf dem Schlachtfeld in der Nähe von Awdejewka verantwortlich macht.
Als Selenskijs größter Rivale genießt Saluschny bei den Streitkräften und in der Zivilgesellschaft großen Respekt. Die Streitkräfte sind über die militärische Vorgehensweise der ukrainischen Regierung dermaßen verärgert, dass in einem Bericht der New York Times vom vergangenen Monat über das Debakel bei Kyrnki am Ufer des Dnjepr sogar ein Anflug von Meuterei zu erkennen war. Ein weiterer Experte der einflussreichen Denkfabrik Atlantic Council hat ins Bewusstsein gebracht, wie sehr die ohnehin fragile militärisch-politische Dynamik der Ukraine durch die gescheiterte Gegenoffensive destabilisiert wurde, und forderte Selenskij vor einem Monat auf, eine "Regierung der nationalen Einheit" zu bilden.
Die Aufforderung von Adrian Karatnycky wurde in seinem Artikel für Politico getätigt und als beste Möglichkeit verkauft, potenziell bevorstehende Aufstände in der Ukraine präventiv abzuwenden. Nicht fehlen durfte die Anspielung darauf, dass dadurch auch alle möglicherweise bevorstehenden Pläne für einen Militärputsch neutralisiert werden, die unabhängig von diesen Aufständen stattfinden könnten. Das Dilemma, in dem sich Selenskij nun befindet, besteht darin, dass eine Zustimmung zum Vorschlag von Karatnycky eine Schwäche seinerseits signalisieren und dies das Ende seiner politischen Karriere bedeuten würde, während gleichzeitig die Absetzung von Saluschny zu einer Meuterei innerhalb der Streitkräfte führen könnte.
Das Aufschieben jeglicher Maßnahmen hat ebenfalls Nachteile, da der Druck von der Basis und aus dem Militär in naher Zukunft unkontrollierbare Ausmaße annehmen könnte, während sich die strategische Situation an der Front weiterhin verschlechtert. Russlands Auslandsgeheimdienst erwähnte in einer zuvor veröffentlichten Erklärung keine Pläne über militärische Umstrukturierungen in der Ukraine. Dies kann jedoch daran liegen, dass man sich entweder dessen nicht bewusst ist oder sich darauf geeinigt hat, dass es besser sei, keine Äußerungen dazu abzugeben, da dies den laufenden Prozess in einer Weise beeinflussen könnte, die den russischen Interessen zuwiderläuft.
Auf jeden Fall deutet die Abfolge der Ereignisse von Mitte Dezember bis hin zum Abschuss der Il-76 am vergangenen Mittwoch darauf hin, dass die Intrigen in Kiew sich vertieft haben. Nach dem Abschuss eines Flugzeugs voller ukrainischer Kriegsgefangener hat Selenskij nun einen Vorwand, Saluschny abzusetzen – sofern er das möchte.
Das heißt nicht, dass Selenskij dies mit Sicherheit tun wird, da ein solcher Schritt aufgrund der Beliebtheit von Saluschny mit der sehr realen Gefahr einhergeht, dass ein solcher Schritt nach hinten losgehen könnte. Andererseits dürften die Unterstützer von Saluschny nur lauen Widerstand leisten, wenn es Selenskij gelingt, ihn für diesen Vorfall mit der Il-76 verantwortlich zu machen. Es ist nicht undenkbar, dass Selenskij entweder ihm direkt die Schuld dafür gibt oder er dies über Stellvertreter in den Massenmedien erledigen lassen wird. Selenskij selbst will sich jeglicher Verantwortung entziehen und auf keinen Fall riskieren, dass jemand mit dem Finger auf die USA zeigt.
Alles in allem ist es für Selenskij und seinen US-Paten die politisch bequemste Option, Saluschny die Schuld für den Abschuss der Il-76 in die Schuhe zu schieben. So könnten sie die Verantwortung von sich selbst auf Saluschny abwälzen und die Besetzung seines Postens durch Kirill Budanow erleichtern, ohne großen Widerstand seitens der Streitkräfte oder der Zivilgesellschaft zu erwarten.
Was den Grund angeht, warum die USA vielleicht möchten, dass Saluschny die Bühne verlässt, so könnte es sein, dass er als kompromissbereiter angesehen wird bei eventuellen erneuten Friedensgesprächen mit Russland, etwas, was die führende liberal-globalistische Fraktion in den USA immer noch mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Im Falle eines Waffenstillstands zwischen der Ukraine und Russland müssen sie befürchten, dass ein möglicher darauf folgender Regierungsumsturz in der Ukraine ihre Pläne im Stellvertreterkrieg durchkreuzen würde und dadurch Joe Bidens Wiederwahl scheitern würde. Andererseits könnten sie natürlich auch berechnet haben, dass das Risiko eines Regierungsumsturzes, dem möglicherweise landesweite Massenproteste zur Unterstützung von Saluschny vorausgehen könnten, mit seiner Absetzung zunehmen könnten.
Was auch immer letztendlich passieren wird: Es ist wichtig für Beobachter, CNN und den Verschwörungstheoretikern in der Ukraine, wonach Russland versehentlich sein eigenes Flugzeug abgeschossen hat und das Flugzeug angeblich nur Waffen an Bord hatte, nicht zu glauben, weil Kiew definitiv wusste, dass sich ukrainische Kriegsgefangene an Bord befanden. Es bleibt aber abzuwarten, warum die von den USA unterstützte ukrainische Luftverteidigung es dennoch abgeschossen hat. Mit der Zeit und dem Bekanntwerden der militärischen und/oder politischen Konsequenzen dieses Vorfalls ist jedoch mehr Klarheit in diesem Fall zu erwarten.
Übersetzt aus dem Englischen.
Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt&Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.
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