Von Wladislaw Sankin
Als die Kiewer Putschisten im April 2014 die ersten Truppen in den aufständischen Donbass geschickt hatten, waren unter ihnen auch viele Bastler und Tüftler gewesen, die improvisierten Aufklärungsdrohnen gebaut hatten, um die Positionen des Gegners aufzuspüren. Dann kamen die ersten Kampfdrohnen – RT DE berichtete. Die Ukraine setzte in diesem, damals noch lokalen Konflikt schon früh auf Drohnen, was sich in den ersten Monaten der russischen Militäroperation auszahlte.
Die russische Seite hat den Aufholbedarf auf diesem Gebiet schnell erkannt. Feldkommandeure, Kriegsblogger, Militärkorrespondenten, humanitäre Helfer und sonstige Freiwillige vernetzten sich und sammelten Gelder für Entwicklung und Herstellung der sogenannten First-Person-View-Drohnen (FPV), die unersetzliche Hilfe in der Aufklärung und Bekämpfung der gegnerischen Infanterie und Artillerie leisteten. Russische staatsnahe Betriebe und größere Technologieunternehmer zogen schnell mit. Russland habe bei der Herstellung von FPV-Drohnen nicht nur aufgeholt, sondern befinde sich einen Schritt im Voraus, stellt nun Der Spiegel im Artikel "Das neue Drohnen-Wettrüsten" fest.
"Der Kommandeur einer freiwilligen ukrainischen Drohnengruppe schätzte im Sommer, dass die Armee bis zu 10.000 Drohnen pro Monat an der Front einsetzt, Russlands Truppen verbrauchen in der gleichen Zeit wohl rund 40.000 solcher Geräte."
Die Hoffnung, dass die Ukraine diesen Rückstand je aufholen könnte, tendieren gen null. Im Gegenteil: Ende November veröffentliche die US-Zeitschrift Forbes den Artikel "Wie der Fachkräfte-Hunger die Drohnen-Branche bremst". Die Journalisten sprachen mit ukrainischen Unternehmen und sonstigen Branchenkennern und stellten einen alarmierenden Fachkräftemangel fest, der durch nichts wettzumachen sei. "Ukrainische Unternehmen stellen jeden Monat etwa 50.000 FPV-Drohnen her, während die Russen sechsmal so viele produzieren", teilte Maxim Scheremet, Gründer von DroneSpace, Forbes mit.
Den Herstellern von FPV-Drohnen fehlen 2.000 Ingenieure, schätzte Wadim Junik, Präsident des Drohnenherstellerverbandes "Technologische Kräfte der Ukraine" und Aufsichtsratsvorsitzender des wehrtechnischen Unternehmens FRDM. Dies sei noch eine vorsichtige Schätzung. Um die Zahl der Drohnen zu versechsfachen (das angesetzte Ziel der ukrainischen Militärführung – Anm. der Red.), werden sechsmal mehr Ingenieure benötigt, meint Scheremet. Das heißt, die Industrie bräuchte 6.000 Ingenieure.
Die viel gepriesenen FPV-Drohnen sind inzwischen nicht nur zu Augen der Einheiten an vorderster Front geworden, sondern auch zu ferngesteuerten Minen- und Granatenwerfern. Sie ermöglichen eine noch nie dagewesene Zielgenauigkeit bis hinunter auf die Ebene eines militärischen Zuges von einigen wenigen Soldaten. "Außerdem sind die Drohnen im Nahbereich bei Infanterie-Operationen gegen feindliche Truppen nützlich, wenn der Einsatz von Artillerie zu riskant ist, weil die Granaten oder Raketen auch die eigenen Leute treffen könnten", schreibt der Spiegel.
Die mangelnden Fachkräfte, die zur Herstellung und fachgerechten Wartung der FPV-Drohnen notwendig sind, kann die Ukraine nicht aus dem Hut zaubern. Der Braindrain setzt sich fort, wobei viele technische Spezialisten ausgerechnet bereits in Russland landeten. In Russland hingegen werden Studenten technischer Disziplinen bereits in mittleren Semestern in die Zusammenarbeit mit Konstrukteurbüros integriert, was für Nachwuchs auch in kriegsrelevanten Branchen sorgt.
Schätzungen zufolge leben in der Ukraine derzeit nicht mehr als 30 Millionen Menschen. Das macht knapp ein Fünftel der russischen Bevölkerung aus. Die ukrainische Wirtschaft schrumpft und ist komplett von westlichen Geldern abhängig, die russische Wirtschaft ist souverän und befindet sich auf Wachstumskurs. Das sind keine guten Voraussetzungen für eine Aufholjagd im Wett- und Technologierüsten.
Außerdem hängt über der ukrainischen Rüstungsindustrie das Damoklesschwert russischer Präzisionsschläge. Auch Werkhallen, in denen heimlich Drohnen zusammengebaut werden, geraten ins Visier der russischen Militäraufklärer. Der durch die Schläge entstehende Schaden kann von der Kriegspropaganda nicht mehr kleingeredet werden und wird immer öfter von Militärs oder Branchenkennern angesprochen.
Auch in anderen Bereichen der Drohnentechnologie hat Russland in den knapp zwei Jahren des Krieges extrem aufgeholt. Dazu zählt der Einsatz von Kamikaze-Drohnen vom Typ Lancet (zu Deutsch "Lanzette"). Ausgerechnet Lancets haben die ersten Leopard-Panzer außer Gefecht gesetzt. Von der russischen Seite wurden bisher 872 Lancet-Einsätze gemeldet (Stand 29. Dezember), 80 Prozent von ihnen trafen ihr Ziel. Russischen Angaben zufolge fiel auch ein Radar der deutschen Luftabwehrsysteme IRIS Lancet "zum Opfer".
Seit Oktober befinden sich auch die ersten Geräte der letzten Lancet-Generation Z-53 im Einsatz. Nach Angaben der Entwickler sind diese Drohnen nun in der Lage, "gemeinsam zu handeln" und in "Schwärmen" zu arbeiten, die von einem neuronalen Netz gesteuert werden, das die Ziele für Angriffe auf die einzelnen Drohnen verteilt. Die Prototypen dieser Drohnen wurden im russischen Fernsehen im Juli und in einer Reportage auf einer Militärmesse im August vorgestellt.
Die Lancets, die auch viele westliche Militärbeobachter als Achtungserfolg der russischen Rüstungsindustrie anpreisen, werden – so die Ironie der Sanktionsgeschichte – in einer ehemaligen Einkaufsmeile produziert. Diese wurde von den westlichen Handelsketten kurz nach Beginn der russischen Militäroperation geräumt. Deren Hersteller ist Zala Aero, ein Tochterunternehmen der Waffenschmiede Kalaschnikow.
Die neuen, KI-betriebene Kamikaze-Drohnen seien sehr unkompliziert in der Anwendung und unverwundbar durch radioelektronische Abwehr, erklärt Unternehmenschef Alexander Sacharow im russischen Fernsehen. Diese seien in die netzwerkgesteuerte Kriegsführung eingefügt, wenn ein Drohnenschwarm in einer KI-Kompanie zusammengefügt wird. "Wenn ein unbemanntes Fahrzeug ein Gruppenziel ins Visier nimmt, wird dieses Wissen direkt mit allen anderen 'Mitgliedern' der Gruppe geteilt. Jede Kamikaze-Drohne wählt ihr Ziel individuell gemäß ihrer Kampfausrüstung. Alles findet ohne Beteiligung eines Menschen statt", sagt er.
Wie gefährlich auch immer russische Kamikaze-Drohnen inzwischen sind, ist deren Einsatz dennoch nicht kriegsentscheidend. Viel hängt nach wie von den russischen Präzisionsschlägen gegen ukrainische Infrastruktur im Hinterland ab. Laut westlichen Beobachtern, die die Erfolgsmeldungen der ukrainischen Luftabwehrbehörden bisher eins zu eins geglaubt hatten, setzt auch auf diesem Gebiet eine besorgniserregende Tendenz ein. Auf diese wies NTV in einer Reihe von Artikeln Anfang Januar hin.
"Russland versucht zunehmend, die Fliegerabwehrsysteme, die der Westen geliefert hat, zu übersättigen. Dahinter steckt das Ziel, eine stete Abnutzung zu erreichen, indem man versucht, auch ganz gezielt Patriot- und IRIS-T-Systeme anzugreifen", teilte Oberst Markus Reisner dem Sender mit. Der Schaden, der auch nach dem angeblichen Abfangen der meisten russischen Marschflugkörper angerichtet wird, sei sehr groß.
Selbst wenn anzunehmen ist, dass die US-Patriot-Systeme in der Lage sind, die russischen Hyperschallraketen Kinschal abzufangen, steht die Ukraine vor dem Problem, dass Abwehrraketen bald nicht mehr ausreichen, um Schwärme russischer Drohnen- und Marschflugkörper aufzuhalten. "Patriots zu beschaffen, ist schwierig, die Produktionszeiten dieser Abwehrraketen sind lang. Das ist der Effekt, auf den Russland setzt: dass es mehr Kinschals produziert als der Westen Patriots", so der Militärexperte Gustav Gressel.
Zumeist sei mehr als eine Patriot-Rakete nötig, um eine Kinschal abzuschießen. "Oft ist die zeitliche Spanne, in der eine solche Rakete abgefangen werden kann, so kurz, dass man auf Verdacht schießen muss. Das treibt den Munitionsverbrauch der Ukraine in die Höhe." Das sei das größte Problem mit den Kinschals.
Und was, wenn nicht die Russen prahlen, die Gressel zufolge Kinschals ungerechterweise zu Hyperschallwaffen zählten, sondern die ukrainische Luftabwehr? Deren Vertreter Juri Ignat gab Ende Dezember zu, dass die Ukraine keine der 300 X-22-Raketen, die Russland bislang abgefeuert hat, abfangen konnte. Die angegebene Kinschal-Geschwindigkeit ist mindestens doppelt so hoch wie die der X-22. Beweise, dass die Ukraine Kinschals zerstören konnte, fehlen, dafür aber existieren Videos, die festhalten, wie Raketen in einem für die Kinschal typischen senkrechten Flug auf deren Ziele einschlagen.
In allen relevanten Bereichen, die eine moderne Kriegsführung ausmachen, beim Drohnenkrieg, der elektronischen Kriegsführung, der Luftabwehr und dem Einsatz von Luftwaffe, Marschflugkörpern und Hyperschallwaffen, ist Russland der Ukraine weit überlegen. Die Spanne, die die Ukraine zumindest für eine dauerhafte Abwehr aufzuholen hat, wird mit jedem Monat des Krieges nur noch größer.
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