Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij gab der britischen Zeitung The Economist ein Interview zum Jahreswechsel. Er erklärte, dass er auch im kommenden Jahr auf "Erfolge" in Richtung Süden und Schwarzmeer aufbauen wolle. Zu solchen Erfolgen zählt er offenbar die Zerstörung eines russischen, Kriegsschiffes durch eine ukrainische Storm Shadow-Rakete Ende Dezember. Sein militärisches Hauptziel im Jahr 2024 sei die "Isolierung" der Hauptinsel und "Rettung" wichtiger Städte im Osten wie Charkow. Die eisfreien Häfen der Krim beherbergen die russische Schwarzmeerflotte und haben geostrategisch eine Schlüsselbedeutung. Der Verlust von Marinestützpunkten, die Russland dort seit 240 Jahren innehat, wäre eine große Blamage für Putin, schwärmte die britische Zeitung.
Kiew werde versuchen, den Zugang zur Halbinsel abzuschneiden, indem es die vier Milliarden Euro teure Brücke von Kertsch zerstöre, die sie mit dem russischen Festland verbindet, so Selenskij. Zu diesem Zweck forderte er erneut Taurus-Tarnkappen-Marschflugkörper aus deutscher Produktion, deren Lieferung Berlin bisher verweigert hat. Hingegen hatten Frankreich und das Vereinigte Königreich Kiew mit Storm Shadow-Raketen versorgt. Geliefert wurden bislang zweihundert Raketen, wobei die Hälfte nach russischen Angaben schon zerstört sei. Die Isolierung der Krim und die Schwächung der militärischen Kapazitäten Russlands dort vor Ort "ist für uns extrem wichtig, denn so können wir die Zahl der Angriffe aus dieser Region reduzieren", sagte Selenskij. Er betonte:
"Russland muss wissen, dass dies für uns ein militärisches Objekt ist."
Der Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich Anfang Oktober noch gegen die Taurus-Lieferungen an die Ukraine entschieden – vorerst. Denn die Frage bleibt nach wie vor diskutabel. Selenskij kann zumindest mit Unterstützung vieler deutschen Medien und Militärexperten sowie solcher Politikerinnen wie der FDP-Abgeordneten Marie-Agnes Strack-Zimmermann rechnen. Am Dienstag sagte sie T-Online:
"Die Ukraine benötigt mehr Munition, mehr Ersatzteile und der Taurus muss sofort auf den Weg gebracht werden, um endlich den russischen Nachschub zu erschweren."
Auch die misslungene ukrainische Gegenoffensive war ein Thema des Gesprächs. Selenskij machte Informationslecks für das Scheitern der Schlacht verantwortlich. Er bekräftigte weiterhin sein ehrgeiziges Ziel, die Grenzen des Landes aus dem Jahr 1991 wiederherzustellen, wollte aber keine Versprechungen machen oder einen Zeitplan festlegen. Das unmittelbare Ziel sei es, "den Osten zu verteidigen" und die kritische Infrastruktur der Ukraine zu schützen.
Laut Präsident Wladimir Putin haben die russischen Streitkräfte jetzt die strategische Initiative im Ukraine-Konflikt, während Kiew weitgehend von politischen Zielen getrieben wird, wobei ihre Bemühungen darauf abzielen, "ihren wahren Herren zumindest einige Ergebnisse zu zeigen."
Selenskij beklagte auch, dass die "Mobilisierung der ukrainischen Gesellschaft und der Welt" heute viel geringer ist als zu Beginn des Konflikts und räumte ein, dass jeder militärische Erfolg von der Unterstützung des Westens abhänge. "Wenn Sie uns Geld oder Waffen geben, unterstützen Sie sich selbst. Ihr rettet eure Kinder, nicht unsere", behauptete er.
Auf die Frage der Journalistin, wie er die Perspektiven von Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten bewerte, sagte er, dass dies nicht möglich ist, weil Putin wie ein Tier den Geruch des Blutes gerochen habe.
"Wenn er gewinnt, wird er euch zum Abendessen verspeisen, mit all eurer EU, NATO, Freiheit und Demokratie", sagte Selenskij. Die Zeitung kommentierte die Art und Weise, wie Selenskij sprach, mit folgender Anmerkung: "Er (Selenskij – Anm. d. Red.) sitzt in seinem Besprechungsraum und spricht per Zoom mit The Economist und schreit seine Botschaft, als würde er versuchen, durch den Computerbildschirm zu kommen. Außerdem "ärgert sich der ukrainische Präsident über das Zögern einiger seiner Verbündeten und über die Entfremdung einiger seiner Landsleute", die immer weniger willig sind, ihr Leben an der Front zu opfern.
Kiew hat für Februar 2022 eine allgemeine Mobilisierung angekündigt, weshalb die meisten Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen. Nach der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive im Sommer, die Kiew nach Angaben Moskaus fast 160.000 Soldaten gekostet hat, kündigte Selenskij kürzlich einen Plan an, 500.000 weitere Soldaten aufzustellen, um die Verluste auf dem Schlachtfeld zu ersetzen.
"Bei der Mobilisierung geht es nicht nur um Soldaten, die an die Front gehen. Es geht um uns alle. Es geht um die Mobilisierung aller Anstrengungen", sagte er gegenüber The Economist. Am Ende des Artikels wurde angemerkt, dass Selenskij viel nüchterner und weniger optimistisch klinge als vor einem Jahr. Auch habe er nach fast zwei Jahren Krieg seine "jugendliche Ausstrahlung" verloren. Dennoch sei er nach wie vor der Überzeugung, "dass die Ukraine nicht von ihrem Plan abrücken kann, Russland zu besiegen".
Mehr zum Thema – Selenskij besucht US-Stützpunkt in Deutschland: USA treiben Ukraine wieder in die Konfrontation