Von Tarik Cyril Amar
Vor einigen Tagen gab der wichtigste politische Verbündete von Präsident Wladimir Selenskij, David Arachamija, der Fernsehmoderatorin Natalja Mosseitschuk ein langes Interview. Beide sind Schwergewichte der ukrainischen Öffentlichkeit mit großer Anerkennung und großem Einfluss.
Die hauptsächliche Plattform von Mosseitschuk ist der Fernsehsender 1+1. David Arachamija leitet die Parlamentsfraktion der Partei "Diener des Volkes", die als politischer Apparat von Wladimir Selenskij dient und als solche die Ukraine de facto autoritär beherrscht. Das Interview wird sicherlich noch sehr viel Aufmerksamkeit erregen, hat aber noch mehr bewirkt: Durch Arachamijas unvorsichtige – oder absichtliche – Darstellung von realen, aber verpassten Gelegenheiten, um zu einem baldigen Friedensabkommen zu gelangen.
In Bezug auf die Verhandlungen, die Ende Februar und Anfang März 2022 zwischen Russland und der Ukraine in Weißrussland stattfanden, erklärte Arachamija im Interview, dass die russische Verhandlungsdelegation ein "konkretes Ziel" verfolgt habe: die Ukraine dazu zu bringen, eine militärische Neutralität zu akzeptieren und die Bestrebungen für eine NATO-Mitgliedschaft aufzugeben. Nach den Worten von Arachamija wurde alles andere, was Russland zuvor als Ziele definiert hatte, etwa die Forderungen nach "Entnazifizierung der Ukraine", den "Schutz der Rechte der russischsprachigen Bevölkerungsgruppen und so weiter", lediglich als "kosmetische politische Würze" vorgebracht.
Man muss das auf sich wirken lassen: Hier sitzt ein Hauptverhandlungsführer für die ukrainische Seite und einer der Spitzenmänner des Regimes von Wladimir Selenskij, der ausdrücklich erklärt, dass alles, was einen Waffenstillstand und einen Frieden in diesem sehr frühen Stadium dieses schrecklichen Krieges erforderte, darin bestand, dass Kiew sich zur Neutralität verpflichtet und seine NATO-Ambitionen aufgibt. Der Krieg hätte im Frühjahr 2022 beendet werden können – das heißt, vor anderthalb sehr blutigen Jahren. Für Kiew wäre der Preis dafür gewesen, seine Ambitionen für eine Mitgliedschaft in der NATO aufzugeben. Ambitionen, die aufgrund eines faulen Versprechens entstanden sind, das 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest ausgesprochen wurde. Ein Versprechen, dass die NATO nicht einzuhalten gedenkt, wie der NATO-Gipfel in Vilnius 2023 erneut gezeigt hat.
Das Eingeständnis von Arachamija im Interview beweist einmal mehr, dass es stets gangbare Alternativen zum derzeitigen Krieg gegeben hat. Westliche Informationskrieger, die diese Tatsache immer noch leugnen, verweigern einfach, sich ihrer eigenen schrecklichen Verantwortung für die Sabotage dieser Verhandlungen zu stellen. Ebenso zeigte Arachamija auf, dass jeder in der Ukraine und im Westen, der darauf beharrte, Moskaus Kriegsziele seien maximalistisch – die Vernichtung der Ukraine als Staat oder der Durchmarsch zumindest bis nach Berlin – , völlig falschlag, sei es aus Dummheit oder aus Absicht. Zumindest, wenn wir dem Fraktionschef der ukrainischen Regierungspartei glauben wollen, der direkte Kontakte mit legitimen Vertretern Russlands hatte und nicht mit den Fantasiewesen, die in den Köpfen allzu vieler westlicher Experten von Washington bis Berlin herumspuken. Und man beachte hierbei: Arachamija hat absolut keinen Grund, Moskaus Absichten und Ziele zu beschönigen.
Im selben Interview, das er Natalija Mosseitschuk gegeben hat, verwendete er gelegentlich den rassistischen Beinamen "Orks" als erniedrigende Bezeichnung für Russen, und zeigte die typische Arroganz, die beim westlichen Publikum gut ankommt, jedoch die Ukraine so viel gekostet hat. Arachamija bildet sich zudem ein, dass er und sein Team über die Technologien des 21. Jahrhunderts verfügen, womit er Zoom und WhatsApp meinte, wohingegen ihm zufolge die russische Verhandlungsdelegation im 19. Jahrhundert feststeckte. Diese nutzten gesicherte Festnetztelefone für die Kommunikation mit Moskau.
Zwar räumte er ein, dass seine russischen Gesprächspartner gut vorbereitet waren, im Gegensatz zur ukrainischen Seite, die improvisieren musste. Er klopfte sich aber gleichzeitig selbst auf die Schultern, weil er "ihre Absichten stören konnte" – das heißt, die Verhandlungen auf ein Niveau herunterzuziehen, auf dem der "Banderist innerhalb der ukrainischen Delegation" Ansprachen halten konnte, um die Russen "blass werden zu lassen".
"Aber was ist mit dem Territorium?", werden sich einige vielleicht fragen. Im Interview erklärte Arachamija, dass die russischen Unterhändler zu diesem Zeitpunkt bereit waren, "dahin zurückzukehren, wo sie vor der Invasion standen", zu den Grenzen vor dem 24. Februar 2022. Oder anders ausgedrückt: Der Krieg wäre nicht nur umgehend zu Ende gewesen, sondern die Ukraine hätte auch alle Gebiete behalten, die von den russischen Streitkräften seitdem eingenommen wurden und auch jene Gebiete, die sie wahrscheinlich in Zukunft noch einnehmen werden. Kiew hätte zwar auf die Krim und die Volksrepubliken Lugansk und Donezk verzichten müssen – Gebiete, deren Bewohner größtenteils nicht Teil der Ukraine sein wollen. Aber verglichen mit dem, was seither passiert ist, wäre das ein akzeptabler Ausweg gewesen.
Der Westen hätte in diesem Szenario die sehr verheerende Niederlage in diesem Stellvertreterkrieg, die ihm jetzt bevorsteht, vermeiden können. Auch wirtschaftlich wäre es allen besser gegangen. Das gilt natürlich vor allem für die Ukraine, die nur noch ein zerstörter Schatten ihres früheren, ohnehin schon armen, Selbst ist, gestützt durch westliche Hilfe aus den USA und der Europäischen Union, insbesondere aus Deutschland – zumindest vorerst noch.
Kein Wunder, dass die nächste Frage von Mosseitschuk an Arachamija lautete, warum die Ukraine dieses russische Angebot nicht angenommen habe, eine Frage, die ihn offensichtlich überraschte. Der Interviewte sah dabei ein wenig aus wie ein schlecht vorbereiteter Student, der bei einer mündlichen Prüfung eine unerwartete Frage gestellt bekommen hat und nun versucht, eine spontane Antwort zusammenzustottern. Er kam zu folgender Einschätzung: Die Annahme des russischen Angebots wäre verfassungswidrig gewesen, weil das Streben nach einer NATO-Mitgliedschaft in der ukrainischen Verfassung verankert ist. Zudem könne man den Russen ohnehin nicht trauen, daher hätte Kiew nie sicher sein können, dass es in Zukunft keinen weiteren russischen Angriff geben würde.
Beide Argumente sind erstaunlich fadenscheinig. Der Wunsch der Ukraine, der NATO und der EU beizutreten, wurde erst vor Kurzem, nämlich im Jahr 2019, in die Verfassung aufgenommen, zu einem Zeitpunkt, als das Verfassungsrecht kurzfristigen innenpolitischen Machtkämpfen untergeordnet wurde. Nach 1991 existierte die unabhängige Ukraine fast 30 Jahre lang ohne solch eine ungewöhnliche Verfassungsänderung.
Und offensichtlich hätte man das, was erst kürzlich der Verfassung hinzugefügt wurde, auch widerrufen können. Selenskij wäre zusammen mit seinem politischen Machtapparat "Diener des Volkes" durchaus in der Lage gewesen, einen solchen Widerruf herbeizuführen, wenn er es gewollt hätte. Bei dieser Verfassungsänderung handelte es sich somit um ein politisch überwindbares Hindernis. Der Verfassungszusatz hätte auch gar nicht erst in die Verfassung Eingang finden dürfen, denn Verfassungen sollten sich an die Grundlagen der politischen Ordnung halten. Das Streben nach diesem oder jenem Bündnis gehört keineswegs in die Grundprinzipien einer Verfassung, sondern ist eine spezifische Politik einer amtierenden Regierung, die dem politischen Diskurs offen bleiben sollte.
Auch das zweite Argument, das Arachamija für das Scheitern einer Friedenslösung vorbrachte, nämlich dass man Moskau "nicht vertrauen könne", macht keinen Sinn. Aus drei Gründen: Erstens gibt er selbst im Interview zu, dass die russische Delegation sehr besorgt über das war, was Arachamija abfällig "dieses Minsk" nannte, womit er wohl die Hinhaltetaktik der Ukraine bei den Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 meinte. Wenn man jedenfalls genug Vertrauen für einen Kompromiss hat, dann hätte Selenskij ein ziemlich überschaubares Risiko eingehen können. Denn nichts ist jemals zu hundert Prozent zuverlässig, außer vielleicht die Tatsache, dass es mehr Krieg geben wird, wenn man keinen Frieden schließt.
Zweitens: Warum sollte Russland erneut angreifen, wenn der einzig wirkliche Grund für den Einmarsch in die Ukraine, nämlich der Drang der Ukraine hin zur NATO, aus der Welt geschafft worden wäre? Oder hat Arachamija hier versehentlich durchblicken lassen, dass die Ukraine nach einem Abkommen mit Russland dieses erneut systematisch hintergangen hätte, wie bei den Abkommen von Minsk? Und dass die Ukraine ihre Absicht eines NATO-Beitritts – wenn auch vielleicht heimlich – aufrechterhalten und damit eine erneute russische Reaktion provoziert hätte? Das ist die einzige Annahme, unter der diese Aussagen zumindest konsistent sind. Die Interpretation seiner Aussagen erscheint umso wahrscheinlicher, als Arachamija auch stolz zugibt, dass seine Delegation ihre Hauptaufgabe darin sah, Verzögerungstaktiken anzuwenden und sich gleichzeitig mit dem ukrainischen Militär abzustimmen, um bei den Verhandlungen den größtmöglichen taktischen Vorteil zu erzielen.
Drittens versuchte Arachamija, ein Fiasko mit einem anderen zu erklären: Er erinnerte daran, dass der damalige britische Premierminister Boris Johnson mit den Worten interveniert habe:
"Wir werden gar nichts unterzeichnen, ihr werdet einfach weiterkämpfen."
Die Gelegenheit nicht zu nutzen, den Krieg bereits Anfang März zu beenden, ist nach Ansicht von Arachamija irgendwie eine Rechtfertigung, dass man es einen Monat später nicht noch einmal versucht hat. Und das im Wesentlichen auf Anordnung eines westlichen Staatschefs, als ob sein Wort für die Regierung der Ukraine Gesetz wäre – was es allerdings eindeutig war. Aber das ist auch keine Überraschung. Das Faszinierende ist die unverblümte Ehrlichkeit, mit der Arachamija die westliche Kontrolle über das Regime von Wladimir Selenskij zugibt.
Von Natalia Mosseitschuk wegen dieser Aussagen herausgefordert, besteht der Interviewte auf "Verteidigung des Landes", um gleichzeitig zuzugeben, dass die Dinge in ständiger Absprache mit den westlichen Partnern abgestimmt wurden. Diese Partner erhielten dosierte Informationen aus Kiew, wussten aber auch immer alles oder hatten Zugriff darauf, bis hin zu allen Beschlüssen, die vom Selenskij-Regime verfasst wurden. Laut Arachamija "wussten wir natürlich, dass wir den Krieg nicht von uns aus beenden konnten. Deshalb mussten wir uns mit ihnen beraten". Man kann aus diesem schmerzlich inkonsistenten Durcheinander herauslesen, was man will. Eines ist klar: Kiew sieht sich buchstäblich nicht in der Lage, ohne westliche Erlaubnis Frieden zu schließen.
Von Mosseitschuk auf die vielfältigen Anzeichen angesprochen, dass sich der Westen, insbesondere die USA, von der Ukraine abwendet, machte Arachamija Israel verantwortlich. Genauer gesagt die "jüdische Lobby in den USA", die seiner Meinung nach "auf allen Ebenen" und in "allen Entscheidungszentren" breit vertreten ist und Einfluss ausübt, um dem Krieg zwischen Israel und den Palästinensern Priorität einzuräumen.
Auffällig ist seine völlige Weigerung – oder seine Unfähigkeit –, dem Verlauf des Krieges in der Ukraine Gewicht beizumessen. Doch in Wirklichkeit gab es bereits vor dem Ausbruch der jüngsten Krise im Nahen Osten Anzeichen einer ernsthaften Ermüdung des Westens in Bezug auf die Ukraine. Die eigentliche Ursache ist natürlich das Scheitern der ukrainischen Sommer-Gegenoffensive und ganz allgemein die Tatsache, dass Russland im Begriff ist, diesen Krieg zu gewinnen.
Der vielleicht deprimierendste Teil dieses bizarren Interviews mit einem Mann, der entweder nicht die Kontrolle darüber hat, was er sagt, oder eine sehr komplizierte Agenda verfolgt, ist das seltsame Gespür von Dawid Arachamija für die aktuelle Situation in der Ukraine. Er erklärte wiederholt, dass die USA der Ukraine nichts schulden, was schlecht zu seinem vorherigen Eingeständnis passt, dass Washington de facto ein Veto dagegen eingelegt hat, dass die Ukraine jemals Frieden mit Russland schließen.
Die Ukrainer, verlautbarte er, müssten sich auf sich selbst verlassen – und weiterkämpfen. Worauf Natalija Mosseitschuk ihn fragt: "Womit?" Seine Antwort ist eine zusammenhangslose Tirade über "geheime Waffenfabriken" und über "eine Menge Zeug, das wir haben". Offensichtlich ist Wladimir Selenskij nicht der einzige Spitzenpolitiker, der in Fantasien verfällt, während sein Land ausbrennt. Es geht zwar voran in der Ukraine – allerdings nur abwärts.
Aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar
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