Bisher galt bei der geplanten Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) in Deutschland das Widerspruchsrecht. Nach dem deutschen ePA-Gesetzentwurf durfte man der digitalen Sammlung der eigenen Gesundheitsdaten widersprechen und würde somit keine elektronische Akte bekommen. Dazu hieß es im deutschen ePA-Gesetzentwurf:
"Im Rahmen ihrer Patientensouveränität und als Ausdruck ihres Selbstbestimmungsrechts steht es den Versicherten frei, die Bereitstellung der elektronischen Patientenakte abzulehnen."
Dieses Recht soll jetzt vom höherrangigen EU-Recht abgeschafft werden, berichtete die Webseite Corodok am Dienstag. Am 28. November planten zwei EU-Ausschüsse, das jeweils nationale Recht auszuhebeln. Dazu berichtete der EU-Abgeordnete der Piratenpartei Dr. Patrick Breyer über den Beschluss der "Schaffung eines Europäischen Raums für Gesundheitsdaten" der EU-Fachausschüsse LIBE (Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) und ENVI (Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit).
"Die federführenden Ausschüsse des Europäischen Parlaments LIBE und ENVI haben heute für die Schaffung eines "Europäischen Raums für Gesundheitsdaten" (EHDS) gestimmt, mit dem Informationen über sämtliche ärztliche Behandlungen eines Bürgers zusammengeführt werden sollen. Im Vergleich zu den bisherigen Digitalisierungsplänen der Bundesregierung soll das Widerspruchsrecht der Patienten gegen die Patientenakte entfallen", fasste Breyer den Beschluss zusammen.
Während sich kritische Bürger gegenüber dem Gesundheitssystem aktuell vor allem um die angeblich "drohende Gesundheitsdiktatur der WHO" sorgten, so der Datenschutzexperte, würde unter dem Radar der Öffentlichkeit de facto die Preisgabe sensibelster persönlicher Gesundheitsdaten an die Datenkraken der Gesundheitsindustrie beschlossen. Damit einher ginge auch das Ende der ärztlichen Schweigepflicht.
Im Gegenteil: Das geplante EU-Gesetz würde Ärzte nach Artikel 7 sogar verpflichten, jede einzelne Behandlung ihrer Patienten in den EU-übergreifenden Gesundheitsdatenraum einzustellen. Ein Patient dürfe demnach nicht einmal bei Diagnosen und Behandlungen besonders sensibler Erkrankungen in die Erfassung seiner Krankheit in der europäischen Datenbank widersprechen. Seien es psychische Diagnosen, seien es Suchterkrankungen, Drogenabhängigkeiten oder sexuelle Erkrankungen ‒ all diese Daten könnten potenziell für die Gesundheitsindustrie von Nutzen sein. Dementsprechend müsse der Arzt all diese Informationen eintragen.
Dr. Breyer warnt insbesondere vor der missbräuchlichen Nutzung von gehackten oder gestohlenen Gesundheitsdaten:
"Die von der EU geplante zwangselektronische Patientenakte mit europaweiter Zugriffsmöglichkeit zieht unverantwortliche Risiken des Diebstahls, Hacks oder Verlustes persönlichster Behandlungsdaten nach sich und droht, Patienten jeder Kontrolle über die Sammlung ihrer Krankheiten und Störungen zu berauben", erklärt der EU-Abgeordnete und macht deutlich:
"Das ist nichts anderes als das Ende des Arztgeheimnisses."
Anja Hirschel, die für die Piratenpartei bei der Europawahl 2024 kandidiert, weist auf die sogenannte Sekundärnutzung der Gesundheitsdaten hin. Zu sogenannten Forschungszwecken dürften die Daten an private Unternehmen vollumfänglich freigegeben werden.
Das Aufgeben der geplanten Widerspruchsmöglichkeit bedeute laut Hirschel "letztlich die Abschaffung der Vertraulichkeit jeglicher medizinischer Information. Und das, obwohl Ärzte in Deutschland gemäß § 203 StGB berufsständisch zurecht der Schweigepflicht unterliegen, wie unter anderem auch Rechtsanwälte. Dieser Schutz unserer privatesten Informationen und das Recht auf vertrauliche Versorgung und Beratung stehen jetzt auf dem Spiel."
Im Dezember wolle das EU-Parlament endgültig darüber entscheiden. Sollte die obligatorische EU-weite ePA gesetzlich werden, würde das Widerspruchsrecht in Deutschland automatisch wegfallen. Dabei würden sich jetzt schon viele Bürger um den Umgang mit ihren Gesundheitsdaten sorgen. Hirschel zitierte aus einer Umfrage der Verbraucherzentralen:
"Eine Umfrage der Europäischen Verbraucherzentralen (BEUC) hat ergeben, dass 44 Prozent der Bürger Sorgen vor Diebstahl ihrer Gesundheitsdaten haben; 40 Prozent befürchten unbefugte Datenzugriffe."
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