Von Wiktor Schdanow
An der Schwelle zu Europa
Nach Angaben der ukrainischen Nationalbank hat sich die Anzahl von Armen im Land seit 2021 verdoppelt. Heute ist jeder Vierte gezwungen, am Essen zu sparen.
Die Bevölkerung hält sich durch staatliche Zahlungen über Wasser, doch Ressourcen gibt es inzwischen keine mehr. "Ich sage es Ihnen offen – ohne Unterstützung wird es sehr schwierig sein. Denn all das Geld, das die Ukraine verdient, geben wir unseren Militärangehörigen", sagte Selenskij.
Am 14. Und 15. Dezember werden in Brüssel Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Ukraine stattfinden. Dafür wird ein Konsens notwendig sein. Doch die Vorsitzende der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, warnte: Alles hängt von den Reformen ab, die Kiew durchführt.
Die Ukraine am Scheideweg
Diese Verhandlungen werden genau zehn Jahre nach dem Beginn des sogenannten Euromaidan stattfinden. Die Ukraine strebte schon seit den 1990er Jahren in die EU. In der Regierungszeit von Wiktor Juschtschenko beschleunigte sich dieser Prozess, während die Beziehungen zu Russland merklich abkühlten. Die Politik einer zwanghaften Ukrainisierung verletzte grob die Rechte von Russen und russischsprachigen Menschen im Land. Der Nationalismus verstärkte sich. Im Jahr 2010 wurde offiziell die faschistische Ukrainische Aufständische Armee rehabilitiert, Stepan Bandera wurde mit dem Titel des Helden der Ukraine ausgezeichnet.
Die Weltwirtschaftskrise von 2008 verschlimmerte die soziale und wirtschaftliche Lage. Juschtschenko verlor die nächsten Wahlen an seinen langjährigen Rivalen Wiktor Janukowitsch. Auch Janukowitsch verzichtete nicht auf eine Annäherung an Europa, hatte aber nicht vor, die Verbindungen zu Moskau zu kappen.
Er versuchte, sich zwischen dem Westen und Russland zu winden. Für Kiew war Moskau nicht nur ein Gaslieferant, sondern auch der größte Investor. Auf den russischen Markt wurden 42 Prozent aller technologischen und 60 Prozent aller fertigen Produktion der Ukraine eingeführt. Dennoch hatte die Regierung in Kiew keine Eile, die Integration im Rahmen der Zollunion zu vertiefen, in der Hoffnung, günstigere Bedingungen auszuhandeln.
Ein perspektivloser Vertrag
Zum Jahr 2012 haben EU-Beamte den Text des Assoziierungsabkommens der Ukraine vorbereitet. Das Dokument sollte im November 2013 in Vilnius unterzeichnet werden. Von einem EU-Beitritt, selbst in längerfristiger Perspektive, war keine Rede. Es war lediglich eine Stärkung der Zusammenarbeit und eine Unterstützung der Kiewer Reformen zur Demokratisierung, Rechtshoheit und Korruptionsbekämpfung durch Kiew vorgesehen.
Die EU versprach Investitionen. Für europäische Produzenten eröffnete sich ein neuer Markt. Protektionismus wurde Kiew verboten. Dies beeinträchtigte die Interessen der ukrainischen Eliten. Die ukrainische Produktion würde keine Konkurrenz aushalten, und die Verwaltung der Wirtschaft ging de facto auf westliche Strukturen über. Gegen die Assoziierung trat die Föderation der Gewerbetreibenden der Ukraine ein. Für eine Mehrvektorenpolitik blieben keine Chancen mehr.
"Man muss klar sagen, dass man nicht gleichzeitig Mitglied der Zollunion sein kann und eine vertiefte Freihandelszone mit der Europäischen Union haben kann. Das ist unmöglich", sagte José Barroso, der damalige EU-Kommissionspräsident, während der Pressekonferenz nach dem Gipfeltreffen zwischen der Ukraine und der EU in Brüssel im Februar 2013.
Während der Sitzung der EU-Außenminister am 18. November wurde verkündet: Kiew hat zwar nicht alle Forderungen erfüllt, doch der Weg für eine EU-Integration bleibt offen. Die endgültige Entscheidung wurde bis zum Gipfeltreffen in Vilnius am 28./29. November vertagt.
Der Anfang vom Ende
Kiew machte sich inzwischen Sorgen über zu erwartende Verluste. Am 21. November vertagte die Regierung die Unterzeichnung des Abkommens und setzte die Verhandlungen über die Assoziierung so lange aus, bis die Frage nach Kompensationen gelöst würde. In dem Beschluss war vermerkt, dass dies unter anderem "zur Stärkung der Beziehungen mit Russland und den GUS-Staaten" getan wurde. Dabei bestätigte Janukowitsch: Die Ukraine werde die EU-Integration fortsetzen. Dennoch fassten einige diese Ereignisse als einen endgültigen Verzicht auf die EU auf.
"Wir treffen uns um 22:30 Uhr unter dem Denkmal der Unabhängigkeit. Zieht euch warm an, nehmt Regenschirme, Tee, Kaffee, gute Laute und Freunde mit", schrieb in den sozialen Netzwerken der Journalist Mustafa Najjem. Gegen 22:00 Uhr versammelten sich im Zentrum Kiews Studenten, Journalisten und oppositionelle Aktivisten mit den Flaggen der Ukraine und der EU, nach unterschiedlichen Schätzungen bis zu zweitausend Personen. Wie der damalige Ministerpräsident Asarow anmerkte, wurde der erste Tag des Euromaidan als spontaner Protest aufgefasst. Erst später wurde klar, dass es ein im Voraus geplanter Schritt gegen die Regierung war.
Das Kiewer Verwaltungsgericht verbot Zelte im Stadtzentrum, doch schon am 22. November entstand ein Zeltlager, dessen Vorsteher der Oppositionsabgeordnete Andrei Parubij wurde. Der Prostest wurde für unbefristet erklärt. Jeden Tag erschienen immer mehr Menschen auf der Zentralstraße Kreschtschatik, es begannen Schlägereien mit der Miliz.
Die Oppositionsführer Arseni Jazenjuk, Vitali Klitschko und Oleg Tjagnibok (letzterer von der rechtsextremen Swoboda-Partei) forderten einen Rücktritt von Asarow. Janukowitsch wurde die Chance zu bleiben gewährt, wenn er das Assoziierungsabkommen doch noch unterzeichnen sollte. Von der Rada wurde dessen Ratifizierung erwartet und anderenfalls ihre Auflösung angedroht. Brüssel machte keinen Hehl aus der Bereitschaft, das Abkommen mit den neuen ukrainischen Machthabern im Fall der Weigerung der amtierenden Regierung zu unterzeichnen. "Man sagte uns: Wenn ihr das Abkommen nicht unterzeichnet, wird es eine neue Regierung tun", erinnerte sich Asarow.
Unweigerliche Folgen
Genau dies geschah im März 2014, doch das Land war dazu nicht bereit. Führende Industrieunternehmen erlitten Verluste und gingen pleite. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte um 10,7 Prozent. In den nachfolgenden drei Jahren nahm der Export um ein Vierfaches ab. Im Jahr 2019 besetzte die Ukraine den sechsten Platz in der Rangliste der "unglücklichsten Wirtschaften" von Bloomberg. Die Auslands- und Inlandsverschuldung nahm beträchtlich zu. Und das ist nur ein Teil des Preises der EU-Integration.
"Man sollte zwischen den Veranstaltern und den Teilnehmern des Euromaidan klar unterscheiden. Die überwiegende Mehrheit der einfachen Aktivisten wollten Veränderungen zum Besseren. Doch auch von solchen, die kamen, um für Geld die Fahnen zu schwenken, gab es genug. Die unmittelbaren Veranstalter des Protests hofften, auf der Welle der Unruhen an die Macht zu kommen. Die Menschen, die hinter ihnen standen, wollten die völlige Kontrolle über die Ukraine erlangen, um sie als Waffe gegen Russland einzusetzen", sagte Rodion Miroschnik, Bevollmächtigter des russischen Innenministeriums für besondere Angelegenheiten und Verbrechen des Kiewer Regimes, in einem Gespräch mit RIA Nowosti.
Gleichzeitig wurde ihm zufolge das Schicksal der Ukraine noch zu Beginn der 2000er Jahre besiegelt, als Juschtschenko an die Macht kam. Während der sogenannten Orangenen Revolution stellten ukrainische Nationalisten Verbände von rechtsextremen Militanten auf und sicherten sich internationale Unterstützung. "Der Euromaidan wurde nur zu einer weiteren Episode, das Land in den vom Westen benötigten Zustand zu versetzen", betont Miroschnik.
"Heute steht die Ukraine mit einem Fuß im Abgrund. Es gibt kolossale Verluste in der Wirtschaft. Seit 2014 schrumpfte die Bevölkerung um etwa 20 Millionen Menschen, also um das Zweifache. Ganze Wirtschaftszweige gingen verloren", meint der Politologe Alexander Dudtschak.
Dabei hat sich Kiew seit 2013 um keinen Schritt der EU angenähert, nichts wurde seitdem beschlossen. Im Jahr 2020 verabschiedete Brüssel Regeln, nach denen es für Beitrittskandidaten keine Garantien gibt. Der Prozess kann angehalten, abgebrochen und erneut eingeleitet werden. Die europäischen Perspektiven bleiben weiterhin sehr nebelhaft.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.
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