Von Wladimir Kornilow
Im Zusammenhang mit dem Armistice Day, einem traditionellen Gedenktag, an dem das Land der in verschiedenen Kriegen und bewaffneten Konflikten gefallenen Soldaten gedenkt, waren die Gemüter sehr erhitzt. Dieser Tag wird am 11. November begangen, um an den Waffenstillstand von Compiègne im Jahr 1918 zu erinnern, mit dem der Erste Weltkrieg beendet wurde.
In diesem Jahr haben die Befürworter einer raschen Beendigung des Krieges im Gazastreifen beschlossen, dieses Datum für sich zu nutzen. Sie organisierten einen massenhaften Protestmarsch gegen die Politik Israels und der westlichen Staaten, der eine große Zahl von Menschen anzog. Die Londoner Polizei gab an, mehr als 300.000 Menschen seien zu der Demonstration gekommen, während die Organisatoren versicherten, an der Aktion hätten etwa 800.000 Demonstranten teilgenommen, was sie zur größten in der britischen Geschichte macht.
Die Hauptforderung des Protestmarsches war die sofortige Beendigung der Kampfhandlungen in Gaza. Und es erscheint nur logisch, einen Waffenstillstand am Tag des Waffenstillstands anzustreben. Allerdings waren Vertreter des rechtskonservativen Flügels nicht damit einverstanden und riefen dazu auf, den heiligen Tag des Gedenkens an die Soldaten nicht anzutasten. Die britische Innenministerin Suella Braverman forderte die Polizei auf, die Demonstration zu verbieten, und bezeichnete sie als "hate march", womit sie nach Ansicht vieler ihre Befugnisse überschritten hat. So versammelten sich zwei äußerst unterschiedliche "Waffenstillstände" auf den Straßen von London.
Erstaunlich dabei ist jedoch, dass die Situation in Palästina für die Partei von Rishi Sunak wahltaktisch günstig ist. Die konservativen Wähler stehen weitgehend auf der Seite Israels, wohingegen die Labour-Partei in dieser Frage stark gespalten ist. Für die Tories, die in den Umfragen gegenüber ihren Gegnern völlig unterlegen sind, bietet diese Spaltung eine einzigartige Chance. Wie die Kolumnistin der Sunday Times, Camilla Long, richtig bemerkte, "hätten diese Märsche für die Tories ein wahr gewordener Traum werden sollen, doch da mischte sich Braverman ein".
Ihre Aufforderung, den propalästinensischen Marsch zu verbieten, wurde von einer Reihe konservativer Zeitungen beantwortet, aber auch von Radikalen, die in der Presse traditionell als "rechtsextrem" bezeichnet werden (obwohl es seltsam erscheint, dass die "Rechtsextremen" das Recht verteidigen wollen, das Andenken an die im Kampf gegen die Nazis gefallenen Soldaten zu ehren). Letztendlich wurden die meisten Ausschreitungen nicht von Palästina-Befürwortern verursacht, sondern von Gegnern des Marsches, die sich mit der Polizei anlegten. Im Ergebnis wurden neun Polizisten verletzt und etwa 130 Personen verhaftet. Und diese Zahl ist nicht die endgültige, denn die Polizei hat einige der Demonstranten auf die Fahndungsliste gesetzt.
Doch am Sonntag forderten die Zeitungen die sofortige Entlassung von Braverman. "Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!", rief ihr die Sunday People auf der Titelseite zu. "Sie soll sofort entlassen werden!", wurde Sunak im Sunday Mirror aufgefordert. Somit wurde die Schuld für die Unruhen sofort der Leiterin des Innenministeriums in die Schuhe geschoben. Die Forderungen, sie zu entlassen, kamen aus verschiedenen Lagern, und es gab Anzeichen dafür, dass Sunak dies in Kürze ankündigen würde.
Einige Zeitungen scheinen den Premierminister jedoch zu warnen: "Schmeißt mich raus, wenn ihr es wagt!". Und die Daily Mail, die den rechten Flügel der Konservativen vertritt, schreibt unverblümt: "Wenn ihr Suella holt, holt ihr uns alle!". "Sie ist die Hoffnung für die Zukunft unserer Partei!", wird ein hochrangiges Mitglied der Tory-Fraktion vom Daily Express zitiert.
Keiner hat irgendwelche Zweifel daran, dass Braverman Sunak offen die Führung der Partei streitig macht. Sollte die Ministerin entlassen werden, werden sie und ihre Mitstreiter in der Fraktion in diesem Kampf freie Hand haben. Und dies könnte letztlich zum Sturz noch eines Premierministers und damit der gesamten Regierung führen. Manche vermuten sogar, dass Braverman genau darauf setzt ‒ um dann den Vorsitz des abgesetzten Sunak zu übernehmen.
Auf diese verzwickte Weise hat der Krieg in Gaza zu einer Demonstration von Tausenden von Menschen in Großbritannien und zu einer potenziellen Regierungskrise geführt. Und der Tag des Waffenstillstands hat, wie in der klassischen sowjetischen Anekdote, "einen solchen Kampf für den Frieden ausgelöst, dass Himmel und Erde in Bewegung gesetzt werden".
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 13.11.2023.
Wladimir Kornilow ist russischer Politkommentator und Kolumnist .
Anm. der Red.: Die britische Innenministerin Suella Braverman wurde kurz nach Fertigstellung des Textes entlassen.
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