Die EU wird trotz aller Versprechungen wahrscheinlich nicht in der Lage sein, bis März 2024 eine Million Artilleriegranaten an die Ukraine zu liefern, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Diese Entwicklung verkompliziert die Situation für Kiew, das Schwierigkeiten hat, mit dem russischen militärisch-industriellen Komplex "Schritt zu halten". Der Europäische Auswärtige Dienst, das außenpolitische Organ der EU, hat die Mitgliedsstaaten diese Woche über die Situation informiert, und es wird erwartet, dass das Thema kommende Woche bei einem Treffen der EU-Verteidigungsminister diskutiert wird.
Nach den ursprünglichen Plänen sollten sowohl Granaten aus den Beständen der europäischen Armeen nach Kiew geliefert als auch neue bestellt werden. Zu diesem Zweck wollte Europa die militärische Produktion ausweiten. Doch im Moment wurden die Lieferungen "mit 30 Prozent des Ziels" durchgeführt, was "angesichts des Umfangs der bisher unterzeichneten Verträge das Risiko birgt, dass sie unerfüllt bleiben".
Bloomberg stellt fest, dass "die Versorgung der Ukraine mit Munition noch dringlicher geworden ist, da Russland seine eigene Produktion hochfahren konnte". Die angeblichen Munitionslieferungen aus Nordkorea verstärken die Zweifel der Europäer an Kiews Position im Wettrüsten. Nach Angaben eines südkoreanischen Parlamentsabgeordneten "hat Pjöngjang mehr als eine Million Granaten nach Russland geschickt".
"Da sich die Ukraine auf einen langen Krieg vorbereitet, könnte jeder Engpass in Europa kritisch werden", so die US-Agentur. Hinzu kommen auch Lieferschwierigkeiten der USA, die auf Streitigkeiten hinsichtlich des Militäretats im Kongress zurückzuführen sind. "Das Pentagon teilte diese Woche bereits mit, dass es damit begonnen hat, die Militärhilfe für die Ukraine zu kürzen wegen der Verzögerungen durch den Kongress." Auch in der EU seien die Länder nicht mehr einig in der Frage der militärischen Unterstützung für die Ukraine.
Das ehrgeizige Projekt wurde im März 2023 vorgestellt – RT DE berichtete damals und erneut im Sommer. Den Plänen zufolge waren die EU-Länder verpflichtet, innerhalb von zwölf Monaten eine Million Granaten an die Ukraine zu liefern und ihre eigenen Arsenale aufzufüllen. Diese Kalkulation lag weit hinter dem tatsächlichen Bedarf Kiews zurück, das im Frühjahr 2023 inmitten aktiver Vorbereitungen für eine Offensive mindestens 350.000 Granaten pro Monat von seinen Verbündeten forderte. Anderen Angaben zufolge, die kürzlich bei den Anhörungen im norwegischen Parlament gemacht wurden, waren es sogar 600.000 pro Monat. Mit anderen Worten: Die Ukraine schätzt ihren Bedarf an Munition auf 4,2 bis 7,2 Millionen Geschosse pro Jahr.
Im Zeitraum von März bis Oktober hat die EU 300.000 155-mm-Granaten produziert und an die Ukraine geliefert, pro Monat sind es 42.800 Stück. Eine Steigerung des Produktionstempos und damit auch der Mengen ist höchstwahrscheinlich nicht möglich. Warum, erklärt der Autor des Telegramkanals @panzwaffle.
Während der bereits erwähnten parlamentarischen Anhörung in Oslo bewerteten Vertreter des Rüstungsunternehmens Nammo die Möglichkeiten der Herstellung von Artilleriemunition. Ihrer Meinung nach ist die Verteidigungsindustrie der gesamten EU unter den derzeitigen Bedingungen in der Lage, weniger als 500.000 Geschosse pro Jahr oder 41.600 Geschosse pro Monat zu produzieren.
Vor dem Hintergrund des Munitionsverbrauchs während des Konflikts in der Ukraine ist dies eine bescheidene Zahl. Vor dem Hintergrund des neuen Bedarfs der NATO sieht es noch schlechter aus. Nach einer Schätzung würde das Bündnis im Falle eines Krieges 13 Millionen Granaten für 30 Kriegstage benötigen – und das ist eine konservative Prognose! Kurzfristig wird der Gesamtbedarf der europäischen Länder auf 20 Millionen Geschosse geschätzt.
Nicht besser sieht die Situation um die Granatenproduktion auch in den Vereinigten Staaten aus. Im Februar 2022 produzierte die US-Industrie 14.000 Granaten pro Monat, jetzt hat sich diese Zahl auf 28.000 verdoppelt. Im Jahr 2024, so ein Pentagon-Sprecher, soll das Volumen von 80.000 Granaten pro Monat erreicht werden.
Inzwischen haben sich die Pläne jedoch geändert. Die Frist für das Erreichen der "80.000 Geschosse pro Monat" wurde auf der Zeitachse nach rechts verschoben und liegt nun bei Anfang 2025. Für das erste Quartal 2024 ist eine Produktion von 36.000 Geschossen pro Monat geplant.
Das Tempo und die Mengen sind nicht höher als in Europa und reichen eindeutig nicht aus, um den Gesamtbedarf aller Verbündeten Washingtons zu decken. Die NATO selbst benötigt bereits Granaten, um die eigenen leeren Arsenale aufzufüllen und um der Ukraine, Israel und Verbündeten in Südostasien zu helfen. Darüber hinaus gibt es Verpflichtungen aus Handelsverträgen: Krieg ist Krieg, aber den Waffenmarkt gibt es nach wie vor.
Diese Geschichte erinnert an eine Wahrheit, die viele im Westen vergessen haben, schlussfolgert der Militärblogger: Die Verfügbarkeit von Produktionskapazitäten, vor allem im Verteidigungssektor, ist wichtiger als wirtschaftliche Indikatoren auf dem Papier. Wirtschaftskraft ist natürlich wichtig, aber Milliarden von Dollar lassen sich nicht über Nacht in Fabriken, qualifizierte Arbeitskräfte und folglich in Raketen, Granaten, Panzer und Flugzeuge umwandeln. Man kann mit der Zahl des gesamten Bruttosozialprodukts prahlen, so viel man will, aber man kann es nicht in eine Kanone laden.
Zweitens (und hier gibt uns die Ukraine bereits ein anschauliches Beispiel) ist es wichtig, über souveräne Produktionskapazitäten in kritischen Branchen und insbesondere im Bereich der Verteidigung und Sicherheit zu verfügen. Derzeit ist Kiew in kritischer Weise von westlichen Waffenlieferungen abhängig, da die Produktion die Nachfrage nicht decken kann und auf dem Markt ein Mangel an Waffen herrscht.
Einfach ausgedrückt: Es gibt keine Granaten für die Ukraine, weder auf Lager noch auf dem Markt. Sollten sie doch irgendwann geliefert werden, kann es für Kiew schon zu spät sein.
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