Von Elem Chintsky
"Der Name des künftigen Ministerpräsidenten wird heute noch nicht bekannt gegeben", erklärte am Donnerstagvormittag der Kabinettschef des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda, Marcin Mastalerek, dem polnischen Radiosender RMF FM. Präsident Duda soll sich bisher nirgends geäußert haben, ob er eine Entscheidung über die Bestimmung des künftigen Premierministers schon getroffen habe. Die Medien nutzen aus nachvollziehbaren Gründen jede Gelegenheit, um diese Information offiziell verlautbaren lassen zu können. Mastalerek versicherte jedoch, dass der Präsident diese Entscheidung in "verfassungsüblichen Fristen" fällen werde.
Wie es der konstitutionelle Brauch in Polen ist, begibt sich das polnische Staatsoberhaupt derzeit in Beratungen mit den Parteiführern der aus der jüngsten Parlamentswahl siegreich hervorgegangenen Oppositionskoalition. Der ehemalige polnische Ministerpräsident (2007-2014) und ehemalige Europaratspräsident (2014-2019) Donald Tusk ist inoffiziell aber bereits de facto ihr Anführer und somit einziger Anwärter für den Posten des neuen Regierungschefs. Anders würde die – trotz eines durch Tusk und seine Leidensgenossen intensiv geführten Wahlkampfes – immer noch fraktionsstärkste PiS nicht ohne Weiteres abzulösen sein.
Figuren der noch amtierenden PiS-Regierungsspitze zuversichtlich
So lauteten auch die Überlegungen des bisherigen polnischen Ministers für Bildung und Wissenschaft Przemysław Czarnek zum Wochenbeginn. Darin reagierte er auf einige Vorhaben der bisherigen Opposition und der angehenden neuen Regierung.
Denn eine der Ideen, die den Flickenteppich an Parteien um Donald Tusk vereinen, ist die gewünschte Auflösung des Zentralen Antikorruptionsbüros (CBA). Das CBA mit seinen Gründervätern gilt als PiS-Urgestein und wird bereits von der Bürgerkoalition, der PSL, Polen 2050 und den Linken zur Liquidation anvisiert.
Nicht nur dieses dem Sonderdienst drohende Schicksal, sondern auch das von der Opposition bereits angedeutete "Umgehen des Vetos des Präsidenten" kommentierte Czarnek so:
"Das ist Wahnsinn. Wie jeder Wahnsinn hat er einen Anfang – und er wird ein Ende haben. [...] Wir werden auf jeden Versuch, das Gesetz in Polen zu missachten, auf Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und die demokratischen Prinzipien in Polen reagieren, wir werden sehr stark als eine extrem starke Opposition reagieren. Wenn wir dann noch überhaupt Opposition sind – denn man weiß nicht, was in den nächsten Wochen passieren wird und wer die Mehrheit haben wird."
Ohne genauer zu erklären, wer der PiS wie zu einer Mehrheit verhelfen könnte, erläuterte Czarnek stattdessen das weitere Vorgehen seiner Partei als Opposition:
"Aber wenn wir die Opposition sind, dann ist es eine Opposition, für die 7 Millionen und 660 Tausend Polen gestimmt haben. Eine Opposition, die 194 Sitze im Sejm hat – also eine Opposition, die die Pflicht hat, über Polen und die Angelegenheiten Polens zu wachen, einschließlich der Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung des polnischen Rechts. [...] Wir werden den Wahnsinn, von dem hier die Rede ist, nicht zulassen."
Beide großen politischen Ideologien in Polen – die von Tusk sowie die von Kaczyński – beschuldigen sich seit dem Jahr 2005 gegenseitig der Korruption, Vetternwirtschaft und Veruntreuung von öffentlichen Geldern. So überrascht es auch nicht, dass die PiS bereits die Rhetorik eines nun "gefährdeten Rechtsstaates" auffährt. Ähnlicher Kritik, die aber auch aus Brüssel unterstützt wurde, sah sich die PiS-Regierung jahrelang ausgesetzt – wie mit der Gerichtsreform, welche in Polen ad nauseam diskutiert wurde und von ihren liberalen Gegnern als eine PiS-Attacke auf die bis dahin laut ihnen kohärente Gewaltenteilung des polnischen Staates erfasst wurde.
Außerdem ist in dem Interview mit Prof. Czarnek die Rede von nicht weit entfernten, historischen Parallelen, wie zum Beispiel der Staatspräsidentschaft Lech Kaczyńskis, die in den Jahren 2007 bis 2010 in ständiger Fehde mit Donald Tusks damaliger PO-PSL-Regierung stand. Ähnliches erwartet er indessen mit dem jetzigen Präsidenten Duda und der sich bald formierenden, neuen Regierung. Auch auf die Andeutungen seitens Tusks, dass Andrzej Duda seine letzten Präsidentschaftswahlen unter dubiosen Bedingungen gewann, äußerte Czarnek im Gegenzug:
"Diese Art der Beleidigung des Staatsoberhauptes, des Präsidenten Andrzej Duda, mit der Behauptung, dass er die Wahlen unehrlich gewonnen hat, ist sicherlich schon die erste Stufe einer solchen Verleumdung der ersten Person im Staat, mit der wir in den Jahren 2007-2010 zu tun hatten und die zu dieser schwersten Tragödie in der jüngeren Geschichte unserer Heimat geführt hat."
Mit der zuletzt genannten Tragödie meinte der Minister den Flugzeugabsturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 im russischen Smolensk, als Lech Kaczyński zusammen mit seiner Ehefrau und 94 weiteren Menschen an Bord verunglückte.
Laut der üblichen rechtsstaatlichen Dynamik in Polen wird ein Staatspräsident praktisch konstant am Veto-Knopf sitzen, um Gesetzesentwürfe der Tusk-Regierung zumindest zu verlangsamen. So würden diese aus dem polnischen Sejm in den Senat fliegen, dann wieder zurück zu Duda und zur Neubearbeitung durch die Regierungskoalition, später nochmals zum Konstitutionstribunal (dem polnischen Pendant zum Bundesverfassungsgericht in Deutschland). Auf diese Weise wird das Regieren bis ins Jahr 2025 zumindest stark retardiert – nämlich bis zum Wahljahr, aus dem ein neuer Staatspräsident in Polen hervorgehen wird.
PiS als Minderheitsregierung?
Anders kann man sich die PiS nicht erneut an der Macht vorstellen, wenn Czarnek erläutert, dass [die PiS] "bereit sein muss, jederzeit die Macht zu ergreifen. Denn die Turbulenzen, die Polen und seine Bürger, aufgrund einer möglichen künftigen Regierung einer so breiten Koalition von elf Parteien, begleiten werden, sind gewiss – und zwar sehr bald. Ich wiederhole: wenn diese Regierung zustande kommt."
Damit es für eine Minderheitsregierung der PiS reichen würde, müsste ein vorheriger Zerfall der 11-gliedrigen Koalition um Tusk so vehement und unversöhnlich sein, dass man selbst in erneuter Opposition sich weigern würde, den gemeinsamen Feind (PiS) bei seiner Minderheitsregierung groß zu stören. In solch einer hypothetischen Situation müsste also – politologisch gesprochen – eine PiS-Minderheitsregierung von allen zersplitterten Oppositionsparteien respektvoll "geduldet" werden. Für ein solches Szenario aber gibt es weder jetzt noch später irgendwelche Indizien — zu lange haben die Linken, Linksprogressiven, Liberalen und Liberalkonservativen (sowie die Monarchistisch-libertären der Konfederacja) während der PiS-Ära gewartet und lamentiert, um jetzt solch ein Maß an Kompromisslosigkeit und Streitlust untereinander zugunsten der PiS zuzulassen.
Ironischerweise wäre eine PiS-Minderheitsregierung – ungeachtet Prof. Czarneks etwas überhöhter Selbstsicherheit – noch instabiler als die sich bald bildende Regierungskoalition – und somit Mehrheitsregierung – um Donald Tusk. Auch fehlt der polnischen Parlamentsgeschichte eine langfristige Minderheitsregierung, die sich als erfolgreiches politisches Projekt zum aufmerksamen Studium anbieten würde. Sicher wird das Tusk-Kollektiv genau inspizieren, was alles sie denn als ideologisch halbwegs heterogene Koalition multipler Parteien tunlichst unterlassen sollte, indem sie die seit Ende 2021 regierende "Ampel"-Koalition in Berlin betrachtet. Zudem ist auch die Ampelregierung lediglich eine ideologisch verschärfte Variante der GroKo-Ära, aus der zum Beispiel Olaf Scholz vom kritikresistenten SPD-Finanzminister zum einäugigen SPD-Bundeskanzler avancierte. Soviel zu dramatischen "Regierungswechseln" in Deutschland.
Dagegen kann man im Fall Polen schon viel eher behaupten, dass ein innenpolitischer Wechsel stattfand. Wie andernorts aber bereits analysiert, wird es außenpolitisch aus Warschau nicht wirklich diametral umgepolte Frequenzen hageln. Und genauso wie der anfangs über den 2020er US-Wahlsieg von Joe Biden trauernde Andrzej Duda wird sich auch der neue Ministerpräsident Polens Donald Tusk mit einem US-Wahlsieg Donald Trumps im Jahr 2024 zügig abfinden müssen und wird plötzlich den unbeirrbaren Verbündeten spielen. Beim Letzteren (wie vorher schon beim Ersteren erprobt) wird sich zeigen, dass sich der Status quo in der bilateralen US-amerikanisch-polnischen Dynamik und deren Wirkung auf Osteuropa sowie auf Moskau nicht ändern wird.
Mit Berlin ist es ähnlich, nur dass man der Bundesrepublik das Schicksal einer masochistischen Deindustrialisierung aufgetragen hat, welche nun kommen wird – ganz egal, wer in Washington, D.C. und Warschau regieren wird. Dass Tusk Berlin in Zukunft hilft, Mut zu sammeln, um herauszufinden, "wer Nord Stream in die Luft gesprengt hat", und daraufhin Scholz und den Russen beim Reparieren der Gasrohre behilflich sein wird, ist äußerst fraglich. Die kommende Regierung in Warschau wird höchstwahrscheinlich dieses Thema mit strategischem Schweigen traktieren – genau das tut man ja in Berlin bereits eifrig.
Um die Prognose des PiS-Ministers Czarnek trotzdem halbwegs bedienen zu können, müssten Neuwahlen her – mit unverhältnismäßig besseren Ergebnissen für die PiS – oder sogar obendrauf ein stark gewordener, ideologischer Juniorpartner, der plötzlich Kaczyńskis Partei zu einer Mehrheitsregierung verhelfen könnte. Anhand der jetzigen politischen Aufbruchsstimmung im Land sowie durch die politische Vertretung aller anderen relevanten nationalkonservativen Parteien außer PiS (also keine) sind beide Szenarien derzeit und auch mittelfristig frei von jeglicher realistischer Grundlage.
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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.