Von Wladimir Kornilow
"Liebes Europa, am 15. Oktober ist Polen zurückgekehrt!" – Diese Aussage machte Robert Biedroń, Co-Vorsitzender der Partei Nowa Lewica (zu Deutsch: Neue Linke), Mitglied des Europäischen Parlaments und Aktivist der polnischen LGBT-Bewegung, unter dem tosenden Beifall seiner Anhänger. Damit reagierte er auf die Bekanntgabe der Nachwahlbefragung unmittelbar nach Schließung der Wahllokale.
Diesen Ergebnissen zufolge hat die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zwar den ersten Platz belegt, aber eine beträchtliche Anzahl von Stimmen und damit auch von Parlamentssitzen verloren. Vor vier Jahren erhielt sie 235 Parlamentssitze, jetzt hat sie nur noch 200. Der bedingte "Sieg" wurde zum Anlass für einen vorgegaukelten Triumph in der PiS-Zentrale. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bezeichnete das Wahlergebnis als "historischen Sieg" für seine Partei, da es noch nie jemandem gelungen sei, dreimal hintereinander den ersten Platz bei Wahlen zu belegen.
Das stimmt zwar, aber es sieht so aus, als müsste sich die PiS-Partei von Jarosław Kaczyński von der Macht verabschieden. Ebendarum gab es in den Zentralen von drei Parteien, die bereits die Bildung einer Regierungskoalition angekündigt haben, großen Jubel. Es handelt sich um die von Donald Tusk geführte liberalkonservative Bürgerkoalition, die bereits erwähnte Nowa Lewica und das zentristische Parteienbündnis Dritter Weg. Insgesamt verfügen sie über 248 Mandate.
Der einzige, der seine Niederlage ausdrücklich einräumte, war der rechtsgerichtete Block der Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit, der sich aus Euroskeptikern und Nationalisten zusammensetzt. Während des Wahlkampfs wurde ihm manchmal der dritte Platz und eine "goldene Gelegenheit" zur Bildung einer Koalition mit der PiS vorausgesagt. Am Ende erreichten die Konföderierten jedoch nur 6,2 Prozent, was sogar noch schlechter ist als die Zahlen der letzten Wahl 2019.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich ausschließlich um die Analyse der Ergebnisse der Nachwahlbefragung handelt. Bei den slowakischen Wahlen vor zwei Wochen stimmte das Ergebnis der Nachwahlbefragung nicht mit dem tatsächlichen Wahlergebnis überein. Daher können wir uns in Polen vorerst nur an sehr groben Ergebnissen orientieren und müssen auf die endgültige Auszählung der Stimmen warten.
Auf den ersten Blick macht es für Russland kaum einen Unterschied, welche dieser Parteien die Regierung in Polen bilden wird. Was sie alle gemeinsam haben, ist ihre russophobe Rhetorik. Und nicht nur das: Während des Wahlkampfs bezeichneten sie alle ihre Gegner ungehemmt als "Agenten des Kremls". Doch je härter sie in diesem äußerst schmutzigen Kampf aufeinander einschlugen, desto deutlicher wurden die Spaltungen in der polnischen Gesellschaft und in Europa selbst. Die Risse, die in diesem "polnisch-polnischen Krieg" (eine Definition, die von den Wahlteilnehmern selbst gegeben wurde) entstanden sind, können uns daher viele neue Möglichkeiten bieten, die Politik Warschaus in Zukunft zu beeinflussen. Und die Risse sind gravierend – Polen wurde buchstäblich in zwei Teile gespalten (in neun Woiwodschaften belegte die PiS den ersten Platz, in sieben die liberalkonservative Bürgerkoalition).
Jubel nach der Veröffentlichung der Nachwahlbefragung gibt es nur in Europa. Es ist kein Geheimnis, dass die PiS Brüssel schon seit langem Kopfschmerzen bereitet. Vor allem in den letzten Monaten, als Warschau sich über europäische Gesetze und Vorschriften hinwegsetzte, indem es einseitige Beschränkungen für die Lieferung ukrainischer Agrarprodukte verhängte. Donald Tusk, der fünf Jahre lang dem Europäischen Rat und drei Jahre lang der größten Partei im Europäischen Parlament vorstand, gilt in Brüssel als absolut bodenständiger Europäer aus Fleisch und Blut. Sie glauben, dass viele der von Kaczyńskis Partei auf die Tagesordnung gesetzten Probleme nun sehr schnell gelöst werden können. Deshalb haben sich die EU und eine Reihe von europäischen Ländern aktiv in die polnischen Wahlen eingemischt – fast alle europäischen Medien riefen offen dazu auf, für Tusk zu stimmen. Daher auch die zahlreichen Schlangen vor den polnischen Wahllokalen in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland.
In der Ukraine ist der Jubel natürlich auch groß. Es gab bereits eine Reihe von Glückwünschen an Tusks Partei und Medienberichte, die erklärten, dass dieses Ergebnis als "Erfolg für die Ukraine" gewertet werden sollte. Warschau würde nun "pro-europäischer" handeln, das heißt, dass es sich nicht mehr von der gemeinsamen Agenda der EU abwenden werde. Das bedeute, dass auch die Blockade des ukrainischen Getreides bald beendet sein wird.
In dieser Hinsicht sollte die Ukraine sich nicht zu früh freuen. Im erbitterten Kampf um die ländliche Wählerschaft griff Tusks Koalition auch auf die Dienste der gegen ukrainisches Getreide protestierenden Bauern zurück, denn Michał Kołodziejczak, der Vorsitzende der Gewerkschaft Agrounia, wurde auf die Wahlliste gesetzt. Er war derjenige, der die ersten Blockaden des ukrainischen Getreides initiierte, die die Regierung Morawiecki schließlich dazu zwangen, eine offizielle Blockade auszurufen. Mit anderen Worten: Es ist noch zu früh für die Ukraine, sich zu freuen.
Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass der PiS-Protegé Andrzej Duda bis 2025 der Präsident Polens mit sehr weitreichenden Befugnissen bleibt. Und wenn zuvor das Parlament und der Präsident im Einklang handelten, könnten wir nun Zeugen eines erbitterten Kampfes zwischen den beiden Machtzweigen werden. Es ist kein Zufall, dass Kaczyński bei der Beurteilung des Wahlergebnisses sagte, dass Polen nun "Tage des Kampfes und der Zusammenstöße" bevorstünden. Im Großen und Ganzen "gehen die harten Jahre vorbei, und es kommen andere nach".
Übersetzung aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 16. Oktober 2023 auf RIA Nowosti erschienen.
Wladimir Kornilow ist ein sowjetischer, ukrainischer und russischer Politologe, Geschichtswissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und gesellschaftlicher Aktivist. Er ist zudem politischer Beobachter bei der russischen Internationalen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja.
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