Die Zahlungen der Staaten des Westens an Kiew bilden seit Ausbruch des Kriegs im Januar 2022 das brüchige Fundament für das Fortbestehen des ukrainischen Staatsapparats. Laut einem Bericht der US-Zeitung The Wall Street Journal (WSJ) zahlen die US-Bürger mit ihren Steuern die Gehälter von rund 150.000 ukrainischen Beamten sowie über einer Million Lehrern, Professoren und Schulangestellten. Zudem halten sie staatliche Zuwendungen von der ukrainischen Gesundheitsfürsorge bis zu Wohnbeihilfen am Laufen.
Das System der Überlebenshilfe für den ukrainischen Staat ist jedoch in Gefahr, seit der US-Kongress das Finanzierungsgesetz ohne neue Gelder für die Ukraine verabschiedet hat. Bereits im November könnte Kiew kein Geld mehr für seine Regierungsausgaben haben, wenn die Finanzspritzen aus den USA tatsächlich ausbleiben, wie ukrainische und US-amerikanische Regierungsbeamte warnen.
Das ukrainische Finanzministerium rechnet demnach mit möglichen Verzögerungen. Aktuell verfüge man über Ressourcen, um den Haushaltsbedarf im Oktober zu decken. Ab dann stünde Kiew vor der Entscheidung, Dienstleistungen oder Gehälter zu kürzen oder zu versuchen, Kredite aufzunehmen, sagte ein ukrainischer Beamter gegenüber WSJ. Ein anderer ukrainischer Beamter sagte, dass die Kiewer Regierung nach Oktober andere Gelder früher als geplant verwenden könnte, um die Monate November und Dezember zu überstehen. Ohne neue Gelder würde sich das Bild im Jahr 2024 jedoch verdüstern.
In den USA sagte Außenminister Antony Blinken, die Ukraine werde ohne die Fortsetzung der Unterstützung mitten in der Gegenoffensive einen schweren wirtschaftlichen und politischen Schock erleiden. Am Dienstag forderte US-Präsident Joe Biden die Staatschefs von Großbritannien, Kanada, Italien, Japan, Polen und Rumänien, den französischen Außenminister und den Generalsekretär der NATO dazu auf, die Unterstützung für die Ukraine zu koordinieren. Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses betonte, man dürfe unter keinen Umständen zulassen, dass die amerikanische Unterstützung für die Ukraine unterbrochen werde.
"Die Zeit ist nicht unser Freund."
Weltbank: Kiews weniger bekannter Geldstrom
Kiew blieben noch andere Geldquellen, falls die USA als Geldgeber tatsächlich ausfallen sollten. Ein weniger bekannter Geldstrom erreicht Kiew etwa vonseiten der Weltbank, die mit ihrem "Peace"-Programm (Öffentliche Ausgaben für die Aufrechterhaltung der Verwaltungskapazität) der Ukraine 23,4 Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt hat, von denen 20,2 Milliarden US-Dollar von den USA und 2 Milliarden US-Dollar von Großbritannien finanziert wurden. Hinzu kommen die Zahlungen der Europäische Union, die bei der zivilen Unterstützung ein noch größerer Geber ist als die USA.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) erklärte in seinem jüngsten Bericht, dass die weitere externe Unterstützung der Finanzen des Landes von entscheidender Bedeutung sei. Sollte die Finanzierung aus dem Ausland zurückgehen, könnte Kiew gezwungen sein, Anleihen zu verkaufen, was die Inflation in die Höhe treiben könnte. Allerdings stuft die Ratingagentur die ukrainische Staatsverschuldung mit "Ca" ein, der zweithöchsten Bewertung, die Länder erhalten, die kurz vor dem Zahlungsausfall stehen.
Eine Flucht aus der Situation könnte für die Ukraine und ihre Unterstützer der Beitritt des Landes zur EU sein. In einer Studie, die der US-Zeitung The Financial Times vorliegt, haben EU-Beamte für das Sekretariat des EU-Rates in diesem Sommer die potenziellen finanziellen Auswirkungen eines solchen Beitritts abgeschätzt. In dem Papier werden die Chancen aufgezeigt, die die Erweiterung für die EU mit sich bringt. Dazu gehören die Stärkung des geopolitischen Einflusses der EU, die Vergrößerung des Binnenmarktes um 66 Millionen Menschen auf 517 Millionen und eine Behebung des Arbeitskräftemangels.
Dabei wurden die bestehenden Regeln für den Haushalt der EU für die Jahre 2021 bis 27 zugrunde gelegt und diese auf eine erweiterte EU mit der Ukraine, Moldawien, Georgien und sechs westlichen Balkanstaaten angewandt. Die Einbeziehung aller neun Mitglieder in den bestehenden Haushalt würde nach dem Ergebnis der Beamten 256,8 Milliarden Euro kosten, über ein Jahrzehnt dauern und das finanzielle Gleichgewicht innerhalb der EU entscheidend verändern.
EU-Erweiterung: 186 Milliarden Euro für Ukraine
Laut den Berechnungen würde Kiew von dem EU-Beitritt ungemein profitieren, da er laut den Schätzungen der Ukraine über einen Zeitraum von sieben Jahren rund 186 Milliarden Euro einbringen würde. In der Folge müssten viele bestehende Mitgliedsstaaten erstmals zu Nettozahlern werden, wie es in dem Bericht heißt. Der Beitritt von neun Staaten würde eine Reihe "weitreichender" Anpassungen erzwingen, zu denen ein erheblicher Anstieg der Netto-Haushaltsbeiträge von reicheren Staaten wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden gehören könnte.
"Alle Mitgliedsstaaten werden mehr in den EU-Haushalt einzahlen und weniger von ihm erhalten. [Diese] sehr bedeutenden Herausforderungen für die EU [...] müssen gründlich angegangen werden, damit diese neue Erweiterung von unseren Bürgern zumindest akzeptiert, wenn nicht sogar unterstützt wird."
Die Auswirkungen der Ukraine auf das System der Agrarsubventionen in der EU wären besonders groß. Mit 41,1 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche würde die Ukraine zum größten Empfänger von Agrarsubventionen. Nach den derzeitigen Regeln hätte Kiew über einen Zeitraum von sieben Jahren Anspruch auf 96,5 Milliarden Euro aus der EU-Agrarpolitik. Diese finanzielle Umschichtung würde der Studie zufolge zu Kürzungen der Agrarsubventionen für die derzeitigen Mitgliedsstaaten in Höhe von etwa 20 Prozent führen.
Außerdem hätte die Ukraine Anspruch auf 61 Milliarden Euro aus dem EU-Kohäsionsfonds, mit dem die Infrastruktur in ärmeren Mitgliedsstaaten verbessert werden soll. Mit neun zusätzlichen Mitgliedsstaaten würden die Tschechische Republik, Estland, Litauen, Slowenien, Zypern und Malta laut der EU-Studie vermutlich nicht mehr für Kohäsionsmittel infrage kommen.
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