Von Pierre Lévy
Eine Studie folgt der anderen. Sie ähneln sich alle und bestätigen den unaufhaltsamen Anstieg von Prekarität und Armut. Dies gilt für die Länder der Europäischen Union (die doch schon 1958 in den Römischen Verträgen versprachen, Wohlstand und Wohlergehen zu sichern ...). Die reichsten Mitgliedsstaaten, darunter Frankreich, sind keineswegs verschont geblieben.
Dies hat eine Umfrage ergeben, die vom SPF, einer der größten französischen Wohltätigkeitsorganisationen, in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos kürzlich in zehn europäischen Ländern (davon sieben in der EU) durchgeführt wurde.
Mehrere Zahlen veranschaulichen diese Feststellung auf erschreckende Weise. So geben 29 Prozent der Befragten an, dass sie sich dauerhaft in einer prekären Situation befinden. Und mehr als jeder Zweite (51 Prozent) musste in den letzten sechs Monaten in mindestens einem lebenswichtigen Bereich verzichten: Gesundheit, Ernährung, Heizung. Insbesondere gaben für alle zehn Länder zusammengenommen 37 Prozent der Befragten an, auf bestimmte medizinische Behandlungen verzichtet zu haben. Frankreich und Italien liegen genau auf diesem Niveau.
Die gleiche Zahl (36 Prozent) entfällt auf Personen, die auf wesentliche Dinge für ihre Kinder verzichten, wie z. B. Arztbesuche, Schulgebühren, Kleidung oder sogar Mahlzeiten.
Wenig überraschend ist Griechenland eines der Länder, denen es am schlechtesten geht. Seit der Krise 2008 wurden dem Land von den europäischen Oberhäuptern erhebliche Opfer – bei Löhnen, Renten, im öffentlichen Dienst usw. – auferlegt. Die "Troika" – bestehend aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds – war damals für die Ausarbeitung der aufeinanderfolgenden Sparpläne und deren Umsetzung durch die nationale Regierung verantwortlich gewesen, die seinerzeit von Alexis Tsipras geführt worden war. Dieser, obwohl als "radikaler Linker" eingestuft, hatte es vorgezogen, sich dem Diktat zu unterwerfen – trotz eines massiven Neins im Referendum im Juli 2015 –, damit das Land in der Eurozone bleiben konnte.
Auch heute noch, neben den Opfern in den wesentlichen Lebensbereichen, geben 60 Prozent der Befragten in Griechenland zu, dass sie sich an Verwandte wenden, um sich Geld zu leihen oder schenken zu lassen. Und 75 Prozent geben an, dass sie sich bei ihren Transportbedürfnissen einschränken.
Die Heimat von Sokrates war eines der ersten Länder, in denen die Mittelschicht von Entbehrungen betroffen war. Dieses Phänomen breitet sich mittlerweile in ganz Europa aus, heißt es in der SPF-Studie. Und auch Frankreich bleibt nicht verschont. So behaupten 58 Prozent der befragten Franzosen, dass sie befürchten, in absehbarer Zeit in prekäre Verhältnisse zu geraten. Und 45 Prozent sehen sich in Schwierigkeiten, medizinische Behandlungen zu bezahlen. Schließlich können sich 32 Prozent keine gesunden Lebensmittel in ausreichender Menge für drei Mahlzeiten am Tag leisten. Fleisch ist der größte Posten, der geopfert wird, aber auch der Kauf von frischem Obst und Gemüse ist schwer betroffen.
Und all diese Indikatoren haben sich seit der letzten Erhebung verschlechtert. Dies ist natürlich keine Überraschung angesichts der galoppierenden Inflation der letzten 18 Monate, einer Inflation, die alle Länder der Eurozone trifft. In ihrer Rede am 13. September versuchte die Präsidentin der Europäischen Kommission zu betonen, dass sich die Inflation seit dem Höhepunkt im Oktober 2022, als sie 10,6 Prozent erreicht hatte, verlangsamt habe. In Wirklichkeit betrug die Quote im August 2023 immer noch 5,3 Prozent und lag damit weit vor den Lohn- und Rentenerhöhungen.
In einigen Ländern sind es die Gesundheitsausgaben, die die privaten Haushaltsbudgets am stärksten belasteten, in anderen die Energiepreise. In Frankreich waren die Lebensmittelpreise 2022 im Vergleich zu 2021 um 22 Prozent in die Höhe geschnellt. Dieses jährliche Tempo dürfte sich laut Prognosen für diesen Sektor für 2023 auf plus 11,8 Prozent belaufen.
Natürlich hat die Europäische Union keine Ausschließlichkeit in Bezug auf Armut und prekäre Lebensverhältnisse. Diese richten auf allen Kontinenten verheerende Schäden an. Aber einerseits sollte die EU die Bürger vor der Härte der Globalisierung "schützen". "Vereint sind wir stärker und wohlhabender" bleibt einer der beliebtesten Slogans der Befürworter der europäischen Integration.
Andererseits und insbesondere tragen die Grundsätze und die Politik der EU, die ihre DNA ausmachen, massiv zur Verarmung der Völker bei, angefangen beim freien Kapitalverkehr und der Unterstützung des Prinzips des globalen Wettbewerbs.
Darüber hinaus besteht die Brüsseler Wirtschafts-"Governance" aus Regeln und Mechanismen, die darauf abzielen, Sparmaßnahmen zu erzwingen – und das nicht nur für die Griechen. Der Stabilitätspakt – dessen Zweck es ist, das Überleben des Euro zu sichern – ist das bekannteste Instrument. Er wurde nach dem Post-COVID-Wirtschaftsdebakel vorläufig ausgesetzt und soll in den nächsten Monaten wieder in Kraft treten. Die Diskussionen über eine Reform, die ihn theoretisch flexibler machen sollte, kommen nur schleppend voran. Selbst wenn sie zu einem Ergebnis führen, besteht keine Chance, dass dies in Richtung einer Belebung der Kaufkraft der Haushalte geht.
Die privaten Haushalte, angefangen bei denen am unteren Ende der Skala, sind also noch nicht am Ende ihrer Bemühungen angelangt. Sie können sich aber immer damit trösten, die Großzügigkeit der EU in einem bestimmten Bereich zu betrachten: der Unterstützung für die Ukraine.
Seit dem Ausbruch des Krieges haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten insgesamt mehr als 77 Milliarden Euro an Hilfsgeldern gezahlt. Eine pharaonische Summe, die makroökonomische, humanitäre und militärische finanzielle Unterstützung umfasst. Für den ersten Posten hat die Kommission im Juni ein neues Manna von 50 Milliarden für den Zeitraum 2024–2027 vorgeschlagen.
Die militärische Unterstützung für Kiew hat sich seit Februar 2022 bereits auf 5,6 Milliarden Euro summiert. Hinzu kommen mindestens zehn Milliarden Euro an direkten Waffenlieferungen aus den einzelnen Mitgliedsstaaten auf bilateraler Basis. Und hierbei handelt es sich nur um offizielle Zahlen.
Wer sagt, dass die EU nur Sparmaßnahmen durchführt?
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