Am Freitag hat Papst Franziskus Russland als Land der Aufklärung, großer Kultur und der Menschlichkeit bezeichnet. Er erwähnte die russische Zaren Peter den Großen und Katharina die Große in einem positiven Kontext und dankte den russischen Katholiken für ihre Art, "russisch zu sein" – RT DE berichtete. Aus ukrainischer Sicht war dieses Lob unzulässig, und die Reaktion aus diplomatischen Kreisen ließ nicht lange auf sich warten. Oleg Nikolenko, Sprecher des Außenministeriums, gab am Montag auf seiner Facebook-Seite folgendes Kommentar:
"Mit dieser Art von imperialistischer Propaganda, 'geistigen Stützen' und der 'Notwendigkeit', das 'Große Mütterchen Russland' zu retten, rechtfertigt der Kreml die Ermordung Tausender Ukrainer und die Zerstörung Hunderter ukrainischer Städte und Dörfer."
Es sei sehr bedauerlich, dass das "russische Großmachtdenken", das in Wirklichkeit die Ursache für die "chronische Aggressivität Russlands" sei, bewusst oder unbewusst aus dem Mund des Papstes komme. Die Aufgabe besteht nach dem Verständnis der Ukraine gerade darin, der russischen Jugend die Augen für den "zerstörerischen Kurs der derzeitigen russischen Führung" zu öffnen.
An dieser Stelle muss erwähnt werden: Die offizielle ukrainische Sicht auf die Geschichte basiert auf zwei wichtigen Grundlagen. Zum einen reichten die Wurzeln des ukrainischen Volkes bis in das tiefe Altertum zurück. Die zweite Stütze ist die klare Abgrenzung zum Russischen. Russen, die sogar ethnisch angeblich einen anderen Ursprung hätten als die slawischen Ukrainer, hätten den Namen "Rus" gekapert. Die Russen hätten die Ukrainer seit mehr als achthundert Jahren terrorisiert und deren Unabhängigkeit verhindert. Außerdem seien die Ukrainer "zivilisierte" Europäer und die Russen "barbarische" Asiaten.
Dieses Narrativ findet seinen Ausdruck in offiziellen Reden, Schulbüchern, der Kulturproduktion, pseudowissenschaftlichen Artikeln und den Medien. Das erklärte politische Ziel der Ukraine sei nun nicht nur, in seine "atlantisch-europäische Heimat" zurückzukehren, sondern auch, den "russischen Imperialismus" zu besiegen. Die ewige "russische Gefahr" müsse durch "Dekolonisierung" des Riesenlandes ein für alle Mal beseitigt werden.
Es war also folgerichtig, dass national gesinnte Ukrainer auf die Äußerungen des Papstes sehr negativ reagieren würden. Es sei eine "Schande", dass der Papst derart warmherzig über Russland redet, er rede nur "Mist", empörten sich etwa die Leser unter dem Kommentar des ukrainischen Beamten. Auch das Oberhaupt der Griechisch-Katholischen Kirche in der Ukraine Swjatoslaw Schewtschuk äußerste sich kritisch über den Papst.
Die Äußerungen über "das große Russland von Peter dem Großen, Katharina der Großen, dieses Reich – groß, aufgeklärt, ein Land von großer Kultur und großer Menschlichkeit" seien das schlimmste Beispiel für Imperialismus und extremen russischen Nationalismus, sagte er. Er hoffe, dass diese Worte "spontan gesagt wurden, ohne den Versuch einer historischen Bewertung, geschweige denn einer Unterstützung der imperialistischen Ambitionen Russlands".
"Als Kirche möchten wir darauf hinweisen, dass solche Äußerungen im Zusammenhang mit der russischen Aggression gegen die Ukraine die neokolonialen Ambitionen des Aggressorlandes beflügeln, obwohl wir diese Art von 'Russischsein' kategorisch verurteilen müssen", fügte er hinzu.
Laut Schewtschuk erwartet die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche "eine Erklärung dieser Situation vom Heiligen Stuhl".
Die Griechisch-Katholische Kirche (Unierte) war im 16. Jahrhundert im Zuge der Katholisierung der ehemaligen Gebiete des Kiewer Rus gegründet worden. Da die Bevölkerung ungern zum "römischen Glauben" übertrat, wurde ihr durch die Gründung der Unierten Kirche ermöglicht, den gewohnten orthodoxen Ritus beizubehalten. Als Institution ist die Kirche dem Heiligen Stuhl untergeordnet. Im 20. Jahrhundert war die Unierte Kirche sehr eng mit den ukrainischen Nationalisten und Nazikollaborateuren verbandelt. Nach dem Krieg wurde sie in der Ukrainischen SSR aus diesem Grund verboten – bis 1989. Seitdem gelten viele Kirchenvertreter der Unierten wieder als Stichwortgeber der Nationalisten.
Am Dienstag sah sich der Vatikan genötigt, Stellung zum "Skandal" um die Äußerungen des Papstes zu nehmen. Ein Sprecher des Heiligen Stuhls hat auf die Frage der Journalisten erklärt, der Papst habe die imperiale Vergangenheit Russlands nicht verherrlichen wollen.
"Der Papst wollte die jungen Menschen ermutigen, alles Positive in Russlands großem kulturellem und geistigem Erbe zu bewahren und zu fördern, und keinesfalls die imperialistische Logik und die Regierungspersonen, die als Bezugspunkte historischer Perioden genannt wurden, verherrlichen", betonte er.
Auch Kremlsprecher Dmitri Peskow hat inzwischen die Worte des Papstes über Russland kommentiert. Am Dienstag teilte er Journalisten mit:
"Der Papst kennt die russische Geschichte, und das ist sehr gut. Sie ist wirklich tief, sie hat tiefe Wurzeln, und unser Erbe ist nicht nur auf Peter oder Katharina beschränkt, es ist viel älter, dieses Erbe. (...) Es geht darum, dieses Erbe an unsere Jugend weiterzugeben, sie daran zu erinnern. Und die Tatsache, dass der Pontifex, sagen wir mal, mit diesen Bemühungen übereinstimmt, ist sehr ermutigend."
Seit Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine hat Papst Franziskus beide Seiten wiederholt zu Verhandlungen aufgefordert und seine Bereitschaft bekundet, ein Garant für den Frieden in der Ukraine zu werden. In mehreren Interviews stellte er jedoch das westliche Narrativ hinsichtlich der Ursache des Konflikts infrage und wies darauf hin, dass der Krieg, der inzwischen "ein Weltkrieg" sei, von mehreren Seiten angeheizt werde.
Die Zeitschrift The Atlantic erklärt diese besondere Position des Papstes in einem bemerkenswerten Artikel damit, dass der Argentinier nun nicht mehr irgendeine westliche Großmacht vertritt, wie dies in der Vergangenheit oft der Fall war, sondern viel eher den Globalen Süden:
"Der beste Weg, um Franziskus zu verstehen, ist also, nicht in den Begriffen Links gegen Rechts oder gar Ost gegen West, sondern Nord gegen Süd zu denken. Im globalen Süden wird der Konflikt in der Ukraine größtenteils als europäische Angelegenheit betrachtet, eine Angelegenheit ohne einen offensichtlichen Helden oder Bösewicht."
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