Von Elem Chintsky
Am vergangenen 1. August jährte sich zum 79. Mal der Beginn des Warschauer Aufstandes der polnischen Heimatarmee (auf Polnisch: Armia Krajowa, auch "AK") gegen die Nazis und ihre Okkupation Polens. Als größte Untergrundarmee des gesamten Zweiten Weltkrieges kämpften die polnischen Soldaten der Heimatarmee 63 Tage lang in ihrer ohnehin schon zerbombten Hauptstadt gegen die deutschen Besatzer, bevor sie letztendlich kapitulierten.
Das libertär-konservative, polnische Wochenmagazin Myśl Polska publizierte kürzlich eine historische Evaluation des Aufstandes und kontextualisierte die Beweggründe der damaligen Exilregierung Polens in London sowie die der verantwortlichen, obersten Befehlshaber der polnischen Heimatarmee abseits des heutigen PiS-dominierten Staatsnarrativs. Der Autor Dr. Leszek Sykulski zeigt geschichtliche Fakten auf, die eindeutig dafür sprechen, dass die Hauptverantwortlichen des Aufstandes Folgendes wussten: Selbst ein "geglückter" Aufstand würde das Schicksal des Nachkriegspolens nicht ändern. Ferner sei die Unmöglichkeit eines Sieges über die Deutschen in Warschau zu dem Zeitpunkt geradezu gewiss gewesen. Eine nüchterne Analyse aller Faktoren, die die Polnische Republik in der darauffolgenden Ära des Kalten Krieges im Einflussbereich der Sowjetunion platzierte, war bereits gegeben. Die polnischen Entscheider haben wissentlich das Opfer von über 200.000 Landsleuten – darunter mehrheitlich Zivilisten – hingenommen, nur um am Ende des Krieges genau denselben geopolitischen Ausgang zu erhalten.
Der Historiker Sykulski erinnert an die Konferenz von Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943), in der eine Carte Blanche für Josef Stalin in Osteuropa zugesichert wurde. Das hieß, dass keine zusätzlichen Interventionen, Einflüsse, Ansprüche oder Beistandsversuche seitens der westlichen Alliierten für sowjetisch-skeptische Gruppen in der Region geltend gemacht würden.
Des Weiteren erläutert Sykulski, dass wenige Tage vor dem Beginn des Aufstandes – am 29. Juli 1944 – der Abgesandte der polnischen Exilregierung in London, Zdzisław Jeziorański, den Oberbefehlshaber der Heimatarmee, General Tadeusz Bór-Komorowski, über die Ausweglosigkeit der Situation persönlich und unmissverständlich in Kenntnis setzte. Es werde keinen Beistand der westlichen Alliierten geben, würde es tatsächlich zu einer "Schlacht um Warschau" gegen die Deutschen kommen.
Sykulski zitiert die mittlerweile bekannten Sätze von Jeziorański: "Die Aktion 'Sturm' wird keinen Einfluss auf die Entscheidung der Alliierten haben, und für die öffentliche Meinung in der westlichen Welt wird sie ein Sturm im Wasserglas sein." Denn der Warschauer Aufstand war der größte Teil der polenweiten "Akcja Burza" (zu Deutsch: "Aktion Gewittersturm") gegen die Nazis.
Am Tag davor, schreibt Sykulski weiter, seien Oberst Emil Fieldorf-Nil und Oberstleutnant Ludwik Muzyczka zu General Bór-Komorowski gekommen – zwei hochrangige Offiziere, die schriftlich ihren Einwand gegen die Herbeiführung eines Aufstandes in der Hauptstadt einreichten. Zu den Gründen gehörte zum einen die mangelnde Bereitschaft Stalins und seiner Generäle in der Roten Armee, die Heimatarmee zu unterstützen. Zum anderen seien "personelle und organisatorische Schwächen sowie der Mangel an Waffen und militärischer Ausrüstung" ausschlaggebend gewesen.
Sykulski erinnert an den "zu Unrecht vergessenen" Oberst Antoni Żurowski, der die Kämpfe im Warschauer Stadtteil Praga befehligte. Nicht einmal eine Woche nach Beginn des Aufstands, als der Mangel an Waffen und Munition überwältigend wurde und Żurowski das unnötige Leid der Zivilbevölkerung sah, unterzeichnete er die Kapitulation. Dadurch hat er das Leben von Tausenden von Menschen gerettet und den Bezirk Praga vor einer großen Zerstörung bewahrt.
Statt dem Beispiel des regionalen Befehlshabers zu folgen, ordnete Oberbefehlshaber Bór-Komorowski die Mobilisierung aller weiteren AK-Streitkräfte an, die sich noch außerhalb Warschaus befanden, damit sie in die umkämpfte Hauptstadt strömten. Sykulski erklärt an dieser Stelle: "So verurteilte er seine Soldaten. Keine einzige AK-Einheit erreichte die Hauptstadt, aber er führte Tausende von Menschen vor dem NKWD [sowjetischer Geheimdienst] in die Enthüllung." Letzteres bedeutete, dass Aktivisten und Soldaten der polnischen Untergrundarmee (des AK-Netzwerkes insgesamt), die nicht nur vor dem deutschen Besatzer, sondern auch vor den Sowjets im Verborgenen handelten, bloßgestellt und offenkundig gemacht wurden.
Die bereits erwähnten über 200.000 Opfer übersteigen die Zahl all derer, die bei allen polnischen Aufständen von 1794 bis 1863 ums Leben kamen. Es handelt sich um mehr Tote als beim Atombombenabwurf auf Hiroshima. Pro Tag des Aufstandes in Warschau starben mehr Menschen, als es am 11. September 2001 in New York Opfer gab. Dieser Vergleich wurde erstmals vom britischen Historiker Norman Davies – einem Experten für polnische Geschichte – vorgenommen.
Systemische Beurteilung – Beurteilung von Individuen
Die einzelnen, damals kämpfenden Soldaten sind Helden. Das steht vollkommen außer Frage – auch laut Sykulski. Sie erfüllten die Befehle, die von oben kamen, gewissenhaft und unter schwersten, unmenschlichen Bedingungen. Außerdem war das Sentiment unter den Aufständischen der Heimatarmee enorm groß – darunter viele Studenten und andere Gruppen, die vor dem Krieg nicht an Krieg dachten –, dem deutschen Besatzer Gegenwehr zu bieten. Auf eine solche Gelegenheit warteten diese Menschen seit dem Ende der letzten Schlacht am 6. Oktober 1939, die den erfolgreichen Abschluss des Überfalls auf Polen durch die deutschen Nationalsozialisten markierte.
An der in der polnischen Öffentlichkeit populär gewordenen Art und Weise, des Warschauer Aufstandes zu gedenken, übt Sykulski folgende Kritik:
"Seit etwa einem Dutzend Jahren haben wir es in unserem Land mit einem eigentümlichen, unreflektierten Kult um den Warschauer Aufstand zu tun. Schlimmer noch, es ist ein institutionalisierter Kult. An die Stelle des Nachdenkens und des Nachdenkens mit Tiefgang, auch – oder vielleicht vor allem – des politischen Nachdenkens, ist emotionale und sentimentale Propaganda getreten. Unter dem Slogan 'Überlassen wir die Bewertungen den Historikern' herrschen kommerzielle Produkte der billigen Massenkultur in Form von 'Gadgets vom Aufstand' vor. Manchmal hat man den Eindruck, dass all diese T-Shirts, Tassen, Schlüsselanhänger und Anstecknadeln, die zu Hip-Hop-Melodien verkauft werden, nicht nur eine massenkulturelle Ergänzung zu jedem Jahrestag sind, sondern leicht zu einem billigen Ersatz für eine seriöse Debatte werden. Im Übrigen sollte man sich die Frage stellen, ob die Jahrestage unserer nationalen Katastrophen so pompös und feierlich begangen werden sollten, oder eher still und reflektiert?"
Indem Sykulski auf das Recht und die Pflicht einer jeden Nation, frühere Fehler und Niederlagen gründlich zu erforschen und aufzuarbeiten, hinweist, lamentiert er die Bekämpfung eines solchen Diskurses im heutigen Polen:
"Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der sich einige politische und intellektuelle Kreise nicht nur die Erinnerung an diese Ereignisse aneignen, sondern auch Andersdenkenden einen moralischen Maulkorb verpassen wollen. Jeder, der versucht, im öffentlichen Raum eine Debatte über den politischen Sinn dieses Aufstandes anzustoßen, wird sofort beschuldigt, 'dem Andenken an den Aufstand zu schaden' oder gar 'den Sinn des heroischen Aufbegehrens zu untergraben'."
Wenn man beobachtet, wie die Eliten Polens heute so willig und tollkühn eine vollkommen unnötige militärische Auseinandersetzung mit Russland ersuchen – und die eigene Zivilbevölkerung in akute Gefahr bringen –, erscheint das Opfer all der Warschauer Zivilisten und all der Soldaten der Heimatarmee von damals wahrlich umsonst. Sofern es nicht schon damals umsonst war. Der Autor – als gebürtiger Pole – versteht durchaus den "patriotischen Impuls" und das verträumte Prinzip des Bestehens auf Sinnhaftigkeit des Aufstandes, die von der PiS-Elite so effektiv ausgeschlachtet und instrumentalisiert werden und welche bis heute als Rechtfertigungsdogma herhalten.
Letztendlich ist es ein perfides Spiel mit Emotionen, die sehr tief verankert sind. Soll dieses Element der polnischen Nationalpsyche den meisten Beobachtern – Skeptikern und Sympathisanten zugleich – ein Rätsel bleiben, so ist es am konkreten Beispiel des Warschauer Aufstandes an den romantisierten Höhepunkt gelangt. Durch diesen drängt sich retrospektiv doch die unangenehme Forderung nach einer realen, pragmatischen Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Zumal die oft von den Befürwortern genannte "unilaterale Unterstützung" durch die damalige Warschauer Zivilbevölkerung für einen solchen Aufstand sehr schwer zu quantifizieren ist. Immerhin gab es kein Referendum, kein Plebiszit, das die Entscheidung der Heimatarmee im Vorhinein legitimiert hätte.
Die heute in Polen bekannte geschichtliche Ratio lautet, dass man die Nazis bezwingen und aus der eigenen Hauptstadt verjagen wollte, bevor die Rote Armee von Osten her einmarschiert. So hätte man die Sowjets in einer "befreiten polnischen Hauptstadt" als Ebenbürtige empfangen können, statt als sozialistische Befreier vom deutschen Faschismus. Der Lauf der Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg wäre ein anderer gewesen – ein vorteilhafterer für das Nachkriegspolen. So die Begründung vieler westlicher und polnischer Historiker. Erneut – dass dieser Gang der Ereignisse nur mit einer, wenn überhaupt, extrem flüchtigen Wahrscheinlichkeit behaftet war, zeigt folgende Parallele:
Die Tschechen haben während des gesamten Zweiten Weltkrieges (außer wenige Tage vor Kriegsende) seit ihrer Annexion durch die Deutschen im Jahr 1938 keinen einzigen größeren Aufstand gegen die Nazis vollzogen. Sie waren – wie die Volksrepublik Polen – in der Nachkriegszeit auch Teil des Warschauer Vertrages. Die tschechische Führung von damals ermöglichte dem eigenen Volk eine geradezu unversehrte, bis heute wunderschön erhaltene Hauptstadt. Tschechien wurde außerdem zeitgleich mit Polen im Jahr 1999 in die NATO gesogen und trat 2004 synchron mit den Polen der Europäischen Union bei, deren Diktate sie heute genießen dürfen.
Es sei unbedingt erwähnt, dass die Tschechen in ihrem viertägigen "Prager Aufstand" (Ende: 8. Mai 1945) sogar die Rote Armee in einem "befreiten Prag" empfangen konnten, was den Polen mit Warschau tragischerweise im Jahr zuvor verwehrt blieb – an der späteren tschechoslowakischen Zugehörigkeit zum sowjetischen Einflussraum hat es jedoch gar nichts geändert. In einer solchen vergleichenden Rückschau erscheint das große, verschwenderische, zusätzliche Opfer, das 1944 – im fast gänzlich von den Deutschen zertrümmerten Warschau – durch die polnischen Entscheider gebracht wurde, sinnentfremdet und erschreckend unnötig.
Im Hinblick auf die heutigen, hypothetischen Prognosen eines polnischen Kriegseintritts gegen Russland unter einer (2023 erneut durch das Volk legitimierten?) PiS-Führung rückt die Erinnerung an all die unnötig getöteten polnischen Menschen von 1944 in eine tollkühne Schändung ihres Andenkens.
Das letzte Wort gilt dem hier vorgestellten Historiker Sykulski:
"Ein gesondertes Thema ist der Versuch einiger intellektueller Kreise, ein Bild des 'siegreichen Aufstandes' zu entwerfen. 'Und zwar nicht nur moralisch, sondern auch materiell und politisch', wie einer der führenden Mythenbildner dieses Aufstandes schrieb. Das ist ein gefährliches Verfahren, die Flucht aus der realen Welt, das Ersetzen von Tatsachen durch Simulakren. Verdrehte philosophische Argumente, Appelle an kollektive Emotionen, das Spiel mit nationalen Stimmungen verwischen allmählich die Grenze zwischen der realen Welt und ihren Darstellungen. Fantasie und Mythos werden zu realen Gebilden. An diesem Punkt wird jede ehrliche Debatte hinfällig. Die Mythologisierung des kollektiven Gedächtnisses, die sich vor unseren Augen abspielt, ersetzt die Notwendigkeit einer nationalen Reflexion über die eigene Vergangenheit, die für die richtigen Entscheidungen in der Zukunft unerlässlich ist."
Der durch die in Polen aktiven, parteiübergreifenden NATO-Medien als "Russen-Versteher" und "Kollaborateur" denunzierte Dr. Sykulski leistet seinen Beitrag im Hinblick auf die "Zukunft Polens" dahingehend, dass er Märsche in Warschau organisiert, die gegen eine polnische Teilnahme am Krieg in der Ukraine und gegen die Unterstützung des faschistischen Kiewer Regimes sind – während gleichzeitig ein realpolitisch fundierter Frieden mit Russland angestrebt wird.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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