Das ukrainische Militär hat die Gefechtstaktik seiner westlichen Ausbilder aufgegeben und kehrt zu einer Strategie zurück, die auf eine größere Reichweite gegen die russischen Streitkräfte hinausläuft. Dies berichtete die US-Zeitung New York Times (NYT) am Mittwoch. Es ist jedoch unklar, ob Kiew über genügend Munition verfügt, um einen solchen Plan durchzuhalten.
Seit ihrem Beginn Anfang Juni wurde die ukrainische Gegenoffensive von Beamten in Washington und Kiew bestenfalls als enttäuschend langsam bezeichnet – und im schlimmsten Fall als Fehlschlag.
Die vom Westen gelieferten ukrainischen Panzer und gepanzerten Fahrzeuge, die ohne Luftunterstützung russische Minenfelder angriffen, wurden von der russischen Luftwaffe und Artillerie abgeschossen. Laut Schätzungen aus Moskau könnte diese "Offensive" Kiew mindestens 30.000 Mann gekostet haben.
An der Spitze der Offensive standen die neun von der NATO ausgebildeten ukrainischen Brigaden, darunter die 47. Mechanisierte Brigade. Berichten zufolge soll sie innerhalb von zwei Wochen 30 Prozent ihrer in den USA hergestellten Bradley-Panzer verloren haben.
Kiew führte Manöverkrieg ohne Luftüberlegenheit
Als Reaktion auf diese Verluste "haben die ukrainischen Militärkommandeure ihre Taktik geändert und sich darauf konzentriert, die russischen Streitkräfte mit Artillerie und Langstreckenraketen zu zermürben, anstatt sich unter Feuer in Minenfelder zu stürzen", schrieb die NYT unter Berufung auf "US-Beamte und unabhängige Analysten".
Da die Ausbildungszeiten begrenzt waren, hatten die Ukrainer Schwierigkeiten, die NATO-Standardtaktiken für kombinierte Waffen in die Praxis umzusetzen, so die US-Zeitung. Als Beispiele wurden zwei Vorfälle zitiert. Beim einen geriet eine ukrainische Einheit in ein Minenfeld, beim zweiten versäumte es eine Infanterieeinheit, auf einen Artilleriebeschuss einen Angriff auf die russischen Linien folgen zu lassen, was den russischen Verteidigern genügend Zeit gab, einen Gegenangriff vorzubereiten.
Amerikanische Militärplaner hatten eigentlich mit der Ausbildung ukrainischer Truppen in der Manöverkriegsführung begonnen, um Munition zu sparen. "Wenn sie mehr Wert auf Manöver legen, besteht eine große Chance, dass sie weniger Artilleriemunition benötigen", erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin im Februar.
Obwohl die NATO-Militärdoktrin in der Regel davon ausgeht, dass der Manöverkrieg erst dann geführt wird, wenn die westlichen Streitkräfte die Luftüberlegenheit erlangt haben, startete die Ukraine ihre Gegenoffensive ohne diese entscheidende Komponente der Strategie.
Ukraine riskiert im Zermürbungskrieg Nachteil
Trotzdem bezeichneten westliche Beamte und Medien das neue NATO-Strategiebuch der Ukraine als "versteckten Vorteil", wie die US-Zeitschrift Foreign Affairs schrieb. Dieser verleihe den ukrainischen Streitkräften die nötige Beweglichkeit und Schnelligkeit, "um den von Russland bevorzugten Zermürbungskrieg zu überwinden und die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern".
Dass dies nicht geschah, "wirft Fragen über die Qualität der Ausbildung auf, die die Ukrainer vom Westen erhalten haben, und darüber, ob Waffen im Wert von zig Milliarden Dollar … das ukrainische Militär erfolgreich in eine Kampftruppe nach NATO-Standard verwandelt haben", so die NYT.
Da das ukrainische Militär offenbar zu einem artilleriebetonten Kampfstil zurückkehrt, wird die Frage der Munition wahrscheinlich bald wieder in den Vordergrund rücken. Die US-Lagerbestände sind so weit erschöpft, dass Washington Streumunition anstelle von 155-mm-Granaten nach NATO-Standard schickt. Laut NYT riskiere die Ukraine im Zermürbungskrieg einen "Nachteil", wenn sie ihre begrenzte Munition aufbraucht.
Mehr zum Thema – USA könnten 2024 Eskalation des Ukraine-Konflikts provozieren