Trübe Aussichten: Der Niedergang Deutschlands und Zerfall Europas haben wirklich begonnen

Berichte und Prognosen über die voranschreitende Deindustrialisierung Deutschlands werden oftmals mit einem müden Lächeln oder gar Belustigung aufgenommen. Nun hat der Präsident der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) die trüben Aussichten bestätigt. Ist auch danach noch jemandem zum Lachen zumute?

Von Sergei Sawtschuk, RIA Nowosti

Das Fundament der Europäischen Union wankt und wankt immer stärker. Kaum haben sich Gesellschaft und Wirtschaft von der Aussage Robert Habecks ("China und die USA werben aggressiv Unternehmen aus Europa ab") erholt, dass man nur noch ein halbes Jahr Zeit hat, um die deutsche Industrie zu retten, die ohne russisches Gas an hohen Energiepreisen leidet, tritt der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) Michael Vassiliadis vor die Öffentlichkeit und bestätigt die Richtigkeit dieser Einschätzung.

Vassiliadis sprach unter Berufung auf aktuelle Statistiken vollendete Tatsachen aus. Eine dieser Tatsachen ist, dass die deutsche Chemieindustrie – eine der tragenden Säulen des realen Sektors und ein wichtiger Beitragszahler für den Staatshaushalt – bereits jetzt Produktionsstätten schließt und ins Ausland verlagert.

Deutschlands oberster Bergmann, Chemiker und Energietechniker ist so frustriert, dass er sich nicht länger versteckt und nun offen mit dem Finger auf die Hauptnutznießer von Prozessen zeigt, die für das Land äußerst traurig sind. Laut Vassiliadis wandern Fabriken und Anlagen mit ihrem gesamten Personal und technischen Material in die Vereinigten Staaten oder nach China ab.

Die Regierungen dieser Länder haben, wie Berlin plötzlich erkannt hat, im Vorfeld Mechanismen finanzieller Anreize und Präferenzen entwickelt und in die Praxis umgesetzt, die sie für Großunternehmen und die Industrie viel attraktiver machen. Washington und Peking bieten Unternehmen und Konzernen entweder Steuererleichterungen oder beeindruckende Rabatte, vor allem aber wird allen Neuankömmlingen ein Meer von billiger Energie angeboten. Zuallererst natürlich Strom – zu Preisen, die Brüssel und die nationalen Zentren Europas nicht unterbieten können.

Wir verstehen die Skepsis vieler Menschen bei solchen Nachrichten und Prognosen: Über die Probleme Europas wird seit Langem und viel geschrieben, und deshalb lösen solche Veröffentlichungen Gähnen und manchmal sogar Irritation aus. Lassen wir den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zu Wort kommen, dessen Mitarbeiter kürzlich eine umfassende Analyse der Stimmung in ebendieser Branche durchgeführt haben.

Nach den Antworten der Befragten haben 16 Prozent der deutschen Mittelständler bereits konkrete Schritte unternommen, um ihre Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern. Weitere 30 Prozent prüfen diese Möglichkeit und überlegen, wohin sich eine Verlagerung für sie lohnen würde. Insgesamt ist das fast die Hälfte des Segments. Fast die Hälfte der deutschen Unternehmen mit einem Umsatz von bis zu 50 Millionen Euro geben die steigenden Energiepreise als Hauptgrund für die Abwanderung an.

Natürlich klingen die Namen der großen Unternehmen und Fabriken viel beeindruckender, aber jeder Wirtschaftswissenschaftler weiß, dass der Mittelstand das Rückgrat einer jeden Volkswirtschaft ist und sowohl für Arbeitsplätze vor Ort als auch für Kaufkraft in den Regionen sorgt. Per definitionem kann es nicht viele riesige Fabriken geben, es gibt jedoch in jedem Land viele Betriebe, Werkstätten, Produktionsstätten mit 100 bis 250 Arbeitsplätzen.

Vor dem Hintergrund dieser für Berlin bitteren Realität erinnert Vassiliadis daran, dass Washington bereit ist, im Rahmen des sogenannten Inflation Reduction Act bis zu 500 Milliarden Dollar zur Stabilisierung seines Finanzsystems auszugeben. Der wichtigste Aspekt dieses Programms ist die Stärkung des realen Sektors und die Steigerung der Produktion. Einfach ausgedrückt: Washington wird den Löwenanteil dieses Geldes für alle möglichen Subventionen und Vergünstigungen für Industrieansiedler ausgeben, wenn diese nur aus der Alten Welt in die Neue Welt umziehen.

Die europäischen Hersteller medizinischer Geräte stimmen in den allgemeinen Chor ein. Diejenigen, die es geschafft haben, den Anstieg der Energiepreise zu überleben, wurden von den neuen regulatorischen Beschränkungen der Europäischen Union getroffen, die die unterschiedlichsten Anforderungen für medizinische Geräte verschärft haben. Während Berlin und Brüssel Erfolge vorgaukelten, haben die Hersteller ihre Produktion deutlich zurückgefahren – so sehr, dass nach Angaben der deutschen Ärzteverbände in einigen Regionen inzwischen akute Engpässe herrschen. Alles ist so "wunderbar", dass sogar die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nun vorschlägt, die Einführung neuer Regeln mindestens bis 2027 zu verschieben, damit sich spezialisierte Firmen und Unternehmen an die neue Realität in Europa anpassen können.

Dieser Aufschub gibt ihnen aber auch Zeit, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern, was angesichts des allgemeinen Trends durchaus eine Option ist.

Um unser Bild noch anschaulicher zu machen, erteilen wir Vassiliadis noch einmal das Wort. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gab es im vergangenen Jahr einen historischen Negativrekord bei den Unternehmensinvestitionen in der deutschen Realwirtschaft. Investoren innerhalb der EU sind immer weniger bereit, in staatliche oder gesamteuropäische Projekte zu investieren, und ziehen immer schneller Vermögenswerte in die USA und China ab. Die DIW-Analysten bezeichnen die Gesamtsituation als äußerst besorgniserregend.

Bereits im September letzten Jahres hatten wir über den Beginn des großen Exodus der Industrie aus Deutschland geschrieben. Damals, ich erinnere mich, hatten viele das für so etwas wie ein Feuilleton von Michail Sadornow gehalten (sowjetischer und russischer Satiriker, dessen Witze die Unzulänglichkeiten und Paradoxien der USA und des Westens allgemein zum Gegenstand hatten – Anm. d. Red.).

Ein Dreivierteljahr später bestätigt die deutsche Wirtschaft selbst all dies: BASF und Volkswagen sind abgewandert, und das Produktionscluster von Tesla ist in die USA zurückgekehrt. Die norwegische Yara International, RHI Magnesita, ArcelorMittal, OCI N.V. und viele andere reihen sich hinter ihnen in die Exodus-Karawane ein. Diese Unternehmen sind nicht deutsch, aber auch sie haben beschlossen, ihr Glück jenseits des Atlantiks zu versuchen.

Lassen Sie uns zum Abschluss noch eine Veröffentlichung des Forsa-Instituts für Sozialforschung auf die Leinwand bringen. Demnach sind 77 Prozent der Bundesbürger unzufrieden mit der Arbeit der derzeitigen Regierung von Olaf Scholz, während es im Februar "nur" 64 waren. Warum wohl?

Übersetzung aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 13. Juli 2023 auf ria.ru erschienen. 

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