Von Felicitas Rabe, 10.07.2023
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat am Montag seinen Rücktritt als Ministerpräsident und vom Vorsitz der konservativen liberal-bürgerlichen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) angekündigt. Nach den Wahlen im November wolle er sich aus der Politik zurückziehen. Bei seiner Entscheidung sei es ihm nur um die Niederlande gegangen, hat Mark Rutte laut einem Spiegel-Artikel mit dem Titel "Die einzige Antwort sind die Niederlande" dem Parlament mitgeteilt.
Dem Bericht zufolge habe sich Rutte völlig "unabhängig" von den Entwicklungen der vergangenen Wochen "persönlich entschieden", die Politik zu verlassen. "In den letzten Tagen wurde viel darüber spekuliert, was mich motiviert hat, ... Die einzige Antwort sind die Niederlande", zitierte Der Spiegel Rutte.
Im Interview mit Felicitas Rabe erklärte der Amsterdamer Politikprofessor Dr. Kees van der Pijl am Montag, wie Rutte den Zusammenbruch der niederländischen Regierung de facto selbst provoziert hat. In der Bevölkerung der Niederlande sei die Unzufriedenheit über die Landwirtschafts- und Migrationspolitik der Regierung immer weiter gewachsen, meint van der Pijl. Insbesondere hätten gerade die regierungstreuen Bauernorganisationen erst vor zwei Wochen die Verhandlungen mit der Regierung über die Enteignung der Bauernbetriebe abgebrochen. Eine daraufhin in Den Haag organisierte Demonstration radikaler Bauernorganisationen sei von der Polizei weitestgehend verhindert und sogar von der neuen Bauernpartei BBB boykottiert worden.
Aber entscheidend für die Regierungskrise sei die massive Unzufriedenheit über die niederländische Migrationspolitik gewesen, konstatierte der Politikprofessor aus Amsterdam. Die Bevölkerung wolle die wachsenden Ausschreitungen ihrer eingewanderten Mitbürger in und um die Asylzentren nicht mehr tolerieren und sehe die Zuwanderung immer kritischer.
Der Streit in der Regierung habe sich schließlich an der Frage des Familienzuzugs entzündet. Dabei habe Mark Rutte den Parteien der Regierungskoalition zwei Alternativen zur Entscheidung gegeben, die sich – wie Van der Pijl erläuterte – eigentlich kaum voneinander unterschieden: Nach der einen Variante sollten nur Familienmitglieder von den Flüchtlingen nachziehen dürfen, die auf der Flucht aus Kriegsgebieten und damit direkt von Kriegsgewalt betroffen gewesen seien. In der anderen Variante sollten auch Familienmitglieder von Flüchtlingen nachziehen dürfen, welche aus Kriegsgebieten geflohen sind, in denen es Kriegsgewalt gegeben habe.
Die Regierungskoalition unter Rutte setzt sich zusammen aus seiner eigenen rechtsliberalen VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie), der Christdemokratischen CDA (Christen-Democratisch Appèl), der neoliberalen D66 (Democraten 66) und der CU (ChristenUnie).
Rutte habe ganz genau gewusst, dass die Christen-Union, also die Partei der "orthodoxen Protestanten", aus moralischen Gründen in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten keine Unterschiede machen würde zwischen "direkt von Kriegsgewalt Betroffenen" und Flüchtlingen "aus Kriegsgebieten, in den Kriegsgewalt herrsche". Der Ministerpräsident habe das Platzen der Regierung bewusst provoziert, analysierte der Politikwissenschaftler folglich:
"Für Mark Rutte war klar, dass die Christen-Union sich in der Frage nicht entscheiden würde und damit die Regierung zum Platzen gebracht wird. Er hat das Platzen der Regierung provoziert."
Mit diesem provokanten Spiel habe sich Rutte gegenüber der Bevölkerung als "starker Mann" profilieren wollen: So, als stehe er in der Frage der Einschränkung der Massenimmigration auf der Seite der Bürger seines Landes. Aber dann, so van der Pijl, habe sich das Spiel ganz anders entwickelt. Große Teile der Bevölkerung hätten das Anbiederungstheater ihres Regierungschefs durchschaut. Den Ärger der Bürger über Mark Rutte hätten wiederum die PVDA (Partei der Arbeit, vergleichbar mit der SPD in Deutschland) und die grüne linke Partei für sich genutzt. Gemeinsam hätten sie gefordert, Rutte solle sofort zurücktreten. Am Ende habe der Ministerpräsident der Niederlande heute Vormittag seinen gänzlichen Rückzug aus der Politik angekündigt.
Der emeritierte niederländische Politikwissenschaftler Prof. Dr. Kees van der Pijl engagiert sich für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Im Jahr 2022 veröffentlichte er das Buch "States of Emergency: Keeping the Global Population in Check". In deutscher Übersetzung erschien 2021 sein Buch "Die belagerte Welt: Corona: Die Mobilisierung der Angst – und wie wir uns daraus befreien können". Auf seinem Twitter-Account berichtet er regelmäßig auch über die Situation in den Niederlanden.
Mehr zum Thema - NATO-Rolle der Bundeswehr wächst – Deutschland und Niederlande bündeln Streitkräfte