Von Pierre Lévy
Zum Glück gibt es die Ukraine: So haben wenigstens die 27 (EU-Mitgliedstaaen - d.Red.) ein Dossier, bei dem sie sich über einen Konsens freuen können.
In Wirklichkeit war diese Behauptung nie ganz korrekt. Denn Ungarn hat angesichts der karikaturhaften antirussischen Aggressivität, die die EU seit – mindestens – Februar 2022 an den Tag legt, immer seinen Unterschied deutlich gemacht.
Budapest hat zwar die elf aufeinanderfolgenden Sanktionspakete gegen Moskau gebilligt, Premierminister Viktor Orbán tritt aber eher für eine Deeskalation ein und hat eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die seine 26 Partner gern durchgesetzt hätten, gebremst oder eingeschränkt. Dies hat einige von ihnen sehr verärgert. Insgesamt konnte sich die EU jedoch ihrer "Einheit" gegenüber dem designierten "Aggressor" rühmen.
Nach der Tagung des Europäischen Rates vom 29. und 30. Juni schien die Einheit in Bezug auf diese geopolitische Angelegenheit und ihre Folgen geschwächt zu sein. Zwar bekräftigten die Staats- und Regierungschefs in ihrer Abschlusserklärung, dass "die Europäische Union weiterhin entschiedene finanzielle, wirtschaftliche, humanitäre, militärische und diplomatische Unterstützung für die Ukraine [...] leisten wird, solange dies nötig ist".
Was die Beschleunigung der militärischen Hilfe angeht, blieben die europäischen Staats- und Regierungschefs allerdings konkret im Dunkeln. Und das aus gutem Grund: Zahlreiche Werkzeuge und Instrumente wurden bereits eingesetzt. Neben der Finanzhilfe wurden bereits Programme zur gemeinsamen Beschaffung von Waffen, zur Herstellung von Munition und zur Unterstützung der Verteidigungsindustrie auf den Weg gebracht. Der Chefdiplomat der EU, Josep Borrell, erklärte, dass bereits 24.000 ukrainische Soldaten von europäischen Instrukteuren ausgebildet worden seien und dass diese Anstrengungen noch verstärkt werden müssten. Die EU-27 stimmte einer Erhöhung der Obergrenze ihres inoffiziellen Militärbudgets (Europäische Friedensfazilität) um 3,5 Milliarden zu.
Die Präsidentin der Europäischen Kommission sprach sich ihrerseits für eine langfristige Verdoppelung der Militärfinanzierung für Kiew aus. Ursula von der Leyen nannte sogar die gigantische Zahl von zusätzlichen 50 Milliarden im Rahmen des mehrjährigen EU-Haushalts 2024-2027, der derzeit überarbeitet wird. Mit der Aussage "Ungenügend" reagierten sofort Polen und die baltischen Staaten. "Absurd", erklärte hingegen Viktor Orbán: Die EU sei "bankrott" und habe keine Kontrolle über die Verwendung der bereits an Kiew gezahlten Militärhilfe.
Aber die Hauptdifferenzen traten diskret bei der langfristigen Strategie zutage. Welche "Sicherheitsverpflichtungen" werden Kiew nach der aktiven Phase der Kämpfe geliefert? Das Konzept der "Sicherheitsverpflichtungen" war vom französischen Präsidenten am 31. Mai bei einer Rede in Bratislava eingeführt worden. Damals überraschte er mit dem Vorschlag, die Integration der Ukraine in die EU und die NATO zu beschleunigen, was dem Gegenteil der traditionellen französischen Position entsprach. Noch im letzten Jahr war Emmanuel Macron der Ansicht, dass der Beitritt zur EU Jahrzehnte dauern würde.
Dieser Wechsel in der Rhetorik könnte durchaus taktischer Natur sein, wenn das Ziel darin besteht, Druck auszuüben, um interne institutionelle Reformen der EU durchzusetzen, die derzeit blockiert sind. Wie dem auch sei, der Herr des Élysée-Palastes hat einige Länder, die (ein wenig) an ihrer militärischen Neutralität festhalten, verunsichert. So ließen Österreich, Irland, aber auch Zypern und Malta in den Schlussfolgerungen des Gipfels festhalten, dass die sogenannten Sicherheitsverpflichtungen zugunsten Kiews "unbeschadet des besonderen Charakters der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaten" vorgeschlagen werden sollten.
Paradoxerweise zeigten auch Ultraatlantiker wie Warschau oder die Balten keine Begeisterung für die Macron'schen Vorschläge, da sie der Ansicht sind, dass die "Sicherheitsgarantien" der ukrainischen Führung im vorrangigen Rahmen der NATO angeboten werden sollten. Für den 11. und 12. Juli ist übrigens ein Gipfeltreffen der Allianz in Vilnius geplant. Dieses Treffen könnte komplex und (hinter den Kulissen) sogar hitzig werden, zumal Washington, das sich 2008 für einen schnellen Beitritt der Ukraine zur NATO eingesetzt hatte, heute seine Position umgekehrt hat – zweifellos um zu vermeiden, dass Moskau Recht behält. Russland hatte dieses rote Tuch immer wieder angeprangert.
Emmanuel Macron hat sogar Berlin überrumpelt, das nicht an dieser französischen Kehrtwende beteiligt war, was den Streit zwischen den beiden Hauptstädten noch mehr belastet. Zumal sich eine andere, globalere Herausforderung abzeichnet: Wie soll man mit dem gewaltigen Schock umgehen, den die Erweiterung der EU um ein weiteres Dutzend Länder mit sich bringen würde? Denn die Ukraine ist nicht der einzige Kandidat: Das benachbarte Moldawien und die Balkanländer, von denen einige seit mehr als zehn Jahren den Status eines Kandidatenlandes haben, dürfen nicht vergessen werden. Vor allem würde ein weiteres Hinauszögern des Beitritts dieser Länder bedeuten, dem russischen Einfluss freien Lauf zu lassen, verkündet Brüssel immer wieder.
Andererseits erfüllt keines dieser Länder auch nur annähernd die europäischen Standards. Der Ukraine beispielsweise wurden im Juni 2022 sieben Bedingungen auferlegt, bevor die "Verhandlungen" über den Beitritt begannen. Nur zwei davon werden heute als erfüllt angesehen – und ganz sicher nicht diejenigen, die sich auf Korruption bezogen.
Und diese Kandidatenstaaten sind besonders arm. Ihnen Platz zu machen, würde fast zwanzig der derzeitigen Mitgliedsländer ihres Status als Nettoempfänger von EU-Subventionen berauben, da der Haushalt nicht erweiterbar ist. Ein wahres Erdbeben, sollte diese Aussicht eines Tages Wirklichkeit werden.
Während die Risse zwischen den 27 im geopolitischen Bereich also diskret zum Vorschein kamen, bestätigten sich die Divergenzen zwischen ihnen auf dem Gipfeltreffen am 30. Juni auch in anderen Bereichen. In den Schlussfolgerungen werden die Positionen der einen und der anderen Seite nebeneinandergestellt. So müsse man gegenüber Peking hart bleiben, aber China müsse ein wichtiger Handelspartner bleiben. Man müsse eine proaktive gemeinsame "Industriepolitik" unterstützen, aber die vorrangige Herrschaft des Wettbewerbs bewahren.
Und in den kommenden Monaten könnte es zu harten Auseinandersetzungen (auch zwischen Paris und Berlin) über die Reform der "Economic Governance", insbesondere des Stabilitätspakts, kommen. Ganz zu schweigen von den aufkommenden Widersprüchen, die sich aus den radikalen Zielen des "Grünen Pakts" (Umwelt und Klima) ergeben.
Der deutlichste Streit brach jedoch am 29. Juni über das Thema Migration aus. Anfang Juni hatten sich die Minister der EU-27 auf einen Mechanismus der "obligatorischen Solidarität" geeinigt, ein Verfahren, das Nicht-Mittelmeeranrainerstaaten dazu verpflichten würde, bestimmte Quoten an Flüchtlingen aufzunehmen – oder Strafzahlungen zu leisten.
Polen und Ungarn, die dieses Prinzip vehement ablehnten, konnten die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens nicht verhindern. Auf dem Gipfel blockierten die Premierminister der beiden Länder die Annahme gemeinsamer Schlussfolgerungen, da Viktor Orbán es ablehnte, dass die EU eine Migrationspolitik vorschreibt. Sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki kündigte seinerseits ein Referendum zu dieser Frage in seinem Land an, das gleichzeitig mit den für den Herbst angesetzten Parlamentswahlen stattfinden sollte.
Die kommenden Monate werden wahrscheinlich für die Befürworter der europäischen Integration schwierig werden.
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