Seit Wochen bezichtigt die Regierung in Kiew Russland Anschlagsplänen auf das größte Atomkraftwerk Europas Saporoschje. Die Angaben wechselten dabei.
Zunächst hieß es, Russland habe auf das Werkgelände mit Sprengstoff beladene LKWs herangekarrt. Das Inspektionsteam der internationalen Atombehörde IAEA konnte derartige Pläne nicht bestätigen. Am Dienstag hieß es dann, Russland habe Sprengsätze an den Dächern des dritten und vierten Reaktorblocks angebracht, um die Folgen eines angeblichen Beschusses durch die Ukraine zu simulieren.
Am Dienstagabend holte Russland zu einem informationellen Gegenangriff auf. Der Berater des Generaldirektors des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom Renat Kartschaa hat erklärt, dass Kiew vorhabe, das AKW in der Nacht zum 5. Juli mit Hochpräzisionswaffen und Kamikaze-Drohnen anzugreifen. Ihm zufolge wollte die Ukraine das Kraftwerk auch mit einer Totschka-U-Rakete mit einem mit radioaktivem Abfall gefüllten Sprengkopf treffen.
Ein Zwischenfall ist ausgeblieben. Am Mittwoch merkte Kartschaa an, dass die proaktive Öffentlichkeitsarbeit seines Unternehmens dazu beigetragen habe, die Ukraine von einem Angriff auf das Atomkraftwerk abzuhalten.
"Mit der Erklärung von gestern Abend haben wir vor den möglichen Folgen gewarnt, um Menschen, die ihren Verstand und ihre Vernunft völlig verloren haben, von Handlungen abzuhalten, die zu einer Katastrophe führen können. Und wenn das bisher gelungen ist, dann sind wir damit zufrieden", sagte er im russischen Fernsehen.
Der russische Journalist und Ukraine-Experte Wassili Stojakin weist darauf hin, dass das Institute for the Study of War in seinem Press Release am 4. Juli eine "Entwarnung" gegeben habe. Zwar geht die regierungsnahe US-Thinktank grundsätzlich von russischen Handlungen für "die Schaffung von Bedingungen für einen möglichen Angriff unter falscher Flagge" aus, merkt aber an, dass es unwahrscheinlich sei, "dass Russland derzeit einen radiologischen Zwischenfall im AKW Saporoschje verursacht".
Laut dem Experten ist das Institut nicht irgendein Thinktank, sondern Stichwortgeber für ukrainische Medien und damit eine Art Kommunikationskanal für Entscheidungen, die in Washington getroffen werden:
"Die Schlussfolgerung, dass der Vorfall unwahrscheinlich sei, ist also mit ziemlicher Sicherheit eine Form des Verbots solcher Manipulationen durch das 'Washingtoner Zentralkommitee'."
Stojakin zufolge könnte die Explosion mit radioaktiven Folgen bei einer andauernden ukrainischen Offensive durchaus Sinn ergeben, um der russischen Seite die Verteidigung zu erschweren. Die Ukrainer könnten durch die Mobilität ihrer Truppen den Folgen einer möglichen Kontaminierung besser entgehen als die Verteidiger, die ihre Positionen nicht verlassen können. Damit wären sie einer stärkeren Strahlenbelastung ausgesetzt als die Angreifer.
Für diese These spricht auch die Tatsache, dass ukrainische Medien noch vor Wochen eine aktive Kampagne für die Bevölkerung zum radioaktiven Schutz gestartet hatten. Die Verseuchung könnte auch durch eine sogenannte "schmutzige Bombe" verursacht werden, also die Streuung radioaktiver Elemente durch den Angriff mit einem entsprechend beladenen Gefechtskopf. Hierzu skizziert der Experte folgendes Szenario:
"Mit dem Erhalt des radioaktiv verseuchten Gebiets erhält die Ukraine ein weiteres Instrument zur Manipulation der globalen Agenda. Die Ukraine wird nun in der Lage sein, Geld für die Dekontaminierung der Gebiete und die Behandlung der Opfer zu verlangen. Nun, wenn das Gebiet aus irgendeinem Grund russisch bleibt, dann soll das Russlands Kopfschmerzen bereiten."
Viele russische Experten verknüpften die Gefahr einer möglichen Provokation am Atomkraftwerk mit dem wegweisenden NATO-Gipfel, der am 11. und 12. Juli im litauischen Vilnius stattfinden wird. Bei diesem Gipfel wird über die Lieferung von US-Jagdbombern F-16 und weiterer modernen westlichen Waffen an die Ukraine entschieden. Deshalb muss Präsident Wladimir Selenskij nachweisen, dass es sich für den Westen immer noch lohnt, in weitere militärische Unterstützung der Ukraine zu investieren.
Der Angriff in der Nacht zum 5. Juli wäre deshalb der dafür passende Termin gewesen, meint der Experte für Fragen der Nuklearsicherheit und Umweltschutz Maxim Schingarkin im Interview mit der russischen Zeitung MK:
"Bis zum Gipfel müssen die Ereignisse selbst stattgefunden haben, und ihre Überprüfung muss erfolgt sein. Es müssen Experten hinzugezogen und Messungen vorgenommen werden. Daher brauchen sie eine gewisse Zeitspanne. Daher war die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies am Unabhängigkeitstag (am 4. Juli) tun würden, sehr hoch. Aber es ist uns gelungen, die USA davon zu überzeugen, dass es für sie in einem Skandal enden würde."
Der Vorwurf des Nuklearterrorismus gegen Russland könnte nur im Falle einer angeblichen Verzweiflungstat halbwegs plausibel erscheinen, betont der Experte. "Ein solches Szenario wurde geschrieben: Eine erfolgreiche Offensive der AFU, Truppen umzingeln Energodar, benachbarte Gebiete gehen hinter die Linien der russischen Armee, und in Verzweiflung sprengt Russland das Kernkraftwerk. Aber jetzt ist nichts dergleichen zu sehen."
Ähnlich skeptisch bewertete die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios auch das ukrainische Nachrichtenportal Strana: "Die Russen könnten das Kraftwerk theoretisch in die Luft jagen, um den weiteren Vormarsch der AFU zu behindern, vorausgesetzt, Moskau ist bereit, die Umweltschäden auf russischem Territorium und der Krim sowie die potenziell sehr ernsten außenpolitischen Folgen, auch für Rosatom, zu ignorieren."
Theoretisch real sei hingegen die Imitation eines angeblich gescheiterten ukrainischen Angriffs auf das Atomkraftwerk durch Russland. Diese würde keine ernsthaften radioaktiven Folgen nach sich ziehen, könnte aber Russland den Anlass geben, die Ukraine einer Nuklearprovokation zu bezichtigen. Strana weist darauf hin, dass Reaktorblocks der Station gut beschützt seien. Viel eher könnten aber die Behälter mit Nuklearabfällen zum Ziel der Angriffe werden. Es sei aber technisch möglich, diese an einen sicheren Ort abzutransportieren, schätzt Strana.
Ein wie auch immer gearteter nuklearer Zwischenfall am Atomkraftwerk ist ausgeblieben. Doch die Gefahr sei nicht gebannt, so der Ukraine-Experte Stojakin. "Irgendwann und unter bestimmten Bedingungen (z. B. bei einer erfolgreichen russischen Offensive) könnten die USA zu dem Schluss kommen, dass die Kosten für den Einsatz radiologischer Waffen nicht so hoch sind. Außerdem müssen wir den Wahnsinn Kiews bedenken, der nicht vollständig von den USA kontrolliert wird."
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