Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat dem Springerblatt Bild ein längeres Interview gegeben. Das Gespräch für die Boulevardzeitung führte Paul Ronzheimer, stellvertretender Chefredakteur der Zeitung.
Orbáns Antworten sorgten bei dem als "Journalist des Jahres" ausgezeichneten Ronzheimer zum Teil erkennbar für Unverständnis und Empörung. Der Ungar bezeichnete die Regierung Wladimir Putins als stabil, nannte einen militärischen Sieg der Ukraine unmöglich und erneuerte seine Forderung nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts.
Bereits zu Beginn der Gesprächs verblüffte Orbán seinen deutschen Gesprächspartner mit der Aussage, er messe den Ereignissen in Russland vom Wochenende keine große Bedeutung zu. Dass es zu der Wagner-Rebellion kommen konnte, sei ein Zeichen von Schwäche. Dass sie nach 24 Stunden beendet war, ein Zeichen von Stärke:
"Sie wissen, Putin ist der Präsident von Russland. Wenn also jemand spekuliert, dass er scheitern oder ersetzt werden könnte, dann versteht er das russische Volk und die russischen Machtstrukturen nicht."
Putin werde auch im kommenden Jahr Präsident sein. Das Reden über die angebliche Schwäche der russischen Regierung sei Teil des Krieges, also nur Propaganda. Auf die Frage Ronzheimers, was Putin zu Fall bringen könne, antwortete Orbán:
"Er ist stabil, er ist ein gewählter Führer Russlands und er ist beliebt und die Strukturen hinter ihm sind ziemlich stark. Wir müssen also den ganzen russischen Komplex ernst nehmen."
Der Bild-Journalist warf Orbán daraufhin indirekt vor, seine eigene Vergangenheit verraten und sein Land an die Seite Russlands gerückt zu haben:
"1989 hielten Sie in Budapest eine mutige Rede, in der Sie den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn forderten. Warum haben Sie Jahrzehnte später Ihr Land in gewisser Weise an die Seite Russlands gestellt und gelten selbst in Europa als Putin-Freund?"
In seiner Antwort erklärte der Ministerpräsident, wie der Krieg in der Ukraine sein Land – anders als etwas Deutschland – direkt betrifft:
"Provozieren Sie mich mit dieser Frage? Sie wissen schon, den Ungarn zu sagen, dass wir Pro-Russen oder Freunde der Russen sind, widerspricht unseren historischen Erfahrungen.
Ich kämpfe für Ungarn. Ich kümmere mich nicht um Putin. Ich kümmere mich nicht um Russland. Ich kümmere mich um Ungarn. Was ich also tue, sind Positionen und Aktionen, die gut für die Ungarn sind. Und definitiv ist alles, was jetzt zwischen Russland und der Ukraine passiert, schlecht für die Ungarn. Es ist gefährlich für die Ungarn. Wir haben Leben verloren, ungarische Minderheiten leben dort. Die Gefahr, die vom Krieg ausgeht, ist in unserer Nachbarschaft. Es ist nicht so wie bei euch, ihr wisst, ihr seid die Deutschen, ihr habt Polen und Ungarn zwischen Russland und dem ukrainischen Krieg."
Orbán bekräftigte in der Folge seine Forderung nach einer diplomatischen Lösung und einem Waffenstillstand. Die "Zusammenarbeit" zwischen dem Westen und der Ukraine sei ein Fehlschlag. Auf Nachfrage des empörten Ronzheimer begründete er diese Aussage so:
"Weil ich denke, dass die Art und Weise, wie die Ukrainer an der Frontlinie kämpfen und wir sie finanziell, mit Informationen und mit Instrumenten unterstützen, und sie einen Krieg gegen Russland gewinnen können, ein Missverständnis der Situation ist. Das ist unmöglich."
Als der Bild-Mann auf der Möglichkeit eines militärischen Sieges Kiews mit westlicher Unterstützung beharrte, entgegnete ihm der Ungar, "dass den Ukrainern die Soldaten früher ausgehen werden als den Russen, und das wird am Ende der entscheidende Faktor sein". Das Argument, die Ukraine müsse "ihr gesamtes Territorium" zurückerobern, konterte Orbán so:
"Ich kenne diese Meinung. Aber was wirklich zählt, ist, was die Amerikaner tun möchten. Die Ukraine ist kein souveränes Land mehr. Sie haben kein Geld. Sie haben keine Waffen. Sie können nur kämpfen, weil wir im Westen sie unterstützen. Wenn die Amerikaner also beschließen, dass sie Frieden haben wollen, wird es Frieden geben."
Und noch mit einer weiteren Aussage brachte der Ungar den Kriegsreporter in Rage. Auf dessen Frage, ob Putin ein Kriegsverbrecher sei, antwortete Orbán:
"Nein. Für mich nicht."
Es sei nicht der Moment, über Kriegsverbrechen zu reden:
"Wir können nach dem Krieg über Kriegsverbrechen sprechen. Wenn Sie einen Waffenstillstand wollen und dann verhandeln, müssen wir diejenigen, die Teil des Konflikts sind, überzeugen, an den Tisch zu kommen. Sie an den Tisch zu bitten und zu sagen 'Kommt an den Tisch und ich nehme euch fest' ist keine gute Idee. So können wir diskutieren, so können wir diese ganzen rechtlichen Konsequenzen und strafrechtlichen Konsequenzen oder als Teil des Friedens diskutieren. Es ist also völlig unpassend, darüber im Moment zu sprechen."
Am Ende des Interviews, nachdem Orbán sich gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen hatte, konfrontierte ihn Ronzheimer mit einer moralisch aufgeladenen Frage:
"Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit dem ukrainischen Volk zu sprechen, das sich gerade in diesem Moment an der Front gegen die Russen verteidigt, die ihre Familien töten wollen, die ihre Familien bereits getötet haben. Wir haben gesehen, was in Butscha und anderen Orten geschehen ist. Wie können Sie ihnen erklären, dass sie einfach sagen sollen: 'Okay, wir können uns nicht mehr verteidigen, weil wir weniger Soldaten haben als Russland.' Denn das ist Ihr Argument."
Der ungarische Ministerpräsident ließ auch diese implizite Kritik kühl an sich abtropfen:
"Nun, diese Art von Argument habe ich nicht. Ich habe eine Beschreibung, die anders ist. Ich möchte niemanden von etwas überzeugen. Das ist nicht meine Aufgabe. Es ist nicht unser Krieg. Es ist der Krieg der Ukrainer, Entscheidungen über den moralischen und historischen Horizont zu treffen, ist ausschließlich Sache des ukrainischen Volkes. Ich würde ihnen also raten, genau das zu tun, was das Beste für sie ist. Aber was das Beste für sie ist, müssen sie selbst definieren. Niemand sonst kann es definieren. Denn sie sind eine unabhängige, stolze Nation und ein stolzes Land."
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