Die erste Phase der ukrainischen Offensive, die rund zwei Wochen andauerte und sich vor allem im Gebiet Saporoschje abspielte, ist abgeschlossen. Diese Phase kann man als gescheitert bezeichnen, denn gerade sind die ukrainischen Streitkräfte dabei, ihre Kampftaktik zu ändern. Sie verzichten auf Vorstöße mit westlicher Panzertechnik und drängen in "Wellen" heran, wobei eine Gruppe von Angreifern sofort von einer anderen abgelöst wird. Bilder mit brennenden "Leoparden" und "Brandley"-Schützenpanzern gingen um die Welt, was den westlichen und allen voran den US-Medien bei ihren Frontberichten einige Ernüchterung bescherte.
"Während die Ukraine ihre Gegenoffensive vorbereitete, indem sie westliche Waffen sammelte und ihre Truppen zur Ausbildung in NATO-Länder schickte, verbrachte Russland mindestens sieben Monate damit, sich auf diese potenziell entscheidende Phase des Krieges vorzubereiten – indem es Reserven, Artillerie- und Luftunterstützung bereitstellte, Munition und Treibstoff hortete und weitere Drohnen beschaffte", schrieb die Washington Post am Sonntag.
Bislang gebe es keine Anzeichen dafür, dass die Ukraine blitzartige Erfolge wie im letzten Herbst in den Regionen Charkow im Nordosten und Cherson im Süden erzielen wird, so die Zeitung weiter. Mehrere Militärexperten kommen zu Wort und geben zu bedenken, dass die militärischen Misserfolge Russlands im vergangenen Jahr den falschen Eindruck von Schwäche erweckt haben.
"Sie hatten monatelang Zeit, einen Verteidigungsplan auszuarbeiten, sie haben sich eingegraben und das Gelände genutzt, sie sitzen seit sechs Monaten da und legen kleine Fallen und Minen", schilderte Dara Massicot, Expertin für das russische Militär beim Thinktank Rand Corporation
"Die Russen kämpfen auf gut vorbereiteten Stellungen und haben eine ausreichende Menge an Artilleriemunition angehäuft, außerdem verfügen sie über mehr Drohnen, und in dieser Hinsicht sind sie derzeit nicht schlechter aufgestellt als die Streitkräfte der Ukraine", so der Militäranalyst Jan Matwejew.
Russland habe so viele Befestigungen gebaut, dass es nicht einmal genug Truppen hat, um alle seine Verteidigungslinien zu besetzen, erläutern die befragten Experten. In der Region Saporoschje, die eine Schlüsselachse für den ukrainischen Gegenangriff darstellt, wurden zahlreiche Gräben und Hindernisse, darunter Panzerabwehrpyramiden aus Zement, sogenannte Drachenzähne, angelegt.
Die New York Times, die von verschiedenen Stellungen entlang der Donbass-Front zwischen Bachmut und Kremennaja berichtete, kommt in ihrem Bericht zu ähnlichen Ergebnissen. Ukrainischen Soldaten zufolge hätten sich die russischen Schützengräben in ihrer Bauweise als überlegen erwiesen. In einem US-Missionsbericht heißt es, die Bunker seien "Spinnenlöchern im Vietnam-Stil" ähnlich und "so tief, dass sie mit Drohnen nicht entdeckt werden können".
Ein amerikanischer Beamter sagte der Zeitung, dass solche Verteidigungsstellungen für die ukrainischen Streitkräfte eine gewaltige Herausforderung darstellen. Es sei noch zu früh, um zu beurteilen, ob die Ukraine sie überwinden kann. Allerdings hätten die Russen trotz monatelanger Rückschläge und Verluste große Entschlossenheit gezeigt, um weiterzukämpfen.
Der französische Sender TF1 zeigte überraschend russische Verteidigungslinien hinter der Front. In dem Bericht wurden Bewegungen der russischen Militärtechnik, "Drachenzähne", Schützengräben in Mannshöhe sowie der Start einer FPV-Drohne gezeigt. Wie ein ukrainisches Nachrichtenportal anmerkt, verzichtete der Verfasser des Berichts auf Schuldzuweisungen gegenüber Russland, was in der Ukraine für Empörung sorgte.
Auch teilweise aus der Luft abgeworfene Minen stellen laut der Washington Post ein Problem für die Ukraine dar. "Ein Großteil der ukrainischen Minenräumgeräte wurde bereits zerstört, sodass es eine echte Herausforderung ist, die Minenfelder zu durchbrechen."
Nur selten zitieren die westlichen Medien Berichte russischer Medien oder Militärblogger, ohne eine "Propaganda-Warnung" zu platzieren. Im Hinblick auf die Effizienz der russischen Kamikaze-Drohnen macht die Washington Post auch hier eine Ausnahme.
"Russische Blogger und Reporter, die den Krieg befürworten, haben in den letzten zwei Wochen fast täglich Videoclips von Lancet-Drohnen veröffentlicht, die westliches Material zerstören." "Leicht, schnell, leise und präzise – die Lancet hat Dutzende von Zielen in der militärischen Sondereinsatzzone getroffen", wird ein Bericht des russischen Senders Erster Kanal zitiert. Die NYT stellt zur technischen Seite des Krieges fest:
"Russlands Luftabwehr ist nach wie vor schlagkräftig, ebenso wie seine Fähigkeit, Funkgeräte zu stören und Drohnen abzuschießen. Mit dem Vormarsch der ukrainischen Streitkräfte werden die Truppen stärker der russischen Luftunterstützung ausgesetzt sein."
Insgesamt habe Russland die Disziplin seiner Truppen, die Koordination sowie die Luftunterstützung verbessert. Vor diesem Hintergrund könnte sich eine Änderung des Kriegsverlaufs abzeichnen.
Dass die Ukraine in diesem Jahr nur zu einer einzigen Offensive in der Lage sein wird, vermutet der tschechische Präsident Petr Pavel. Als in den USA ausgebildeter Armeegeneral leitete er mehrere Jahre den NATO-Militärausschuss. Im Laufe des Jahres könnte es daher zu Verhandlungen über eine Beendigung des Konflikts kommen. Oder der Konflikt werde bis zum nächsten Jahr eingefroren, sofern es der Ukraine gelingt, neue Kräfte für eine weitere Gegenoffensive zu sammeln, sagte Pavel in einem Interview für den US-Sender CNN.
Die EU geht von einem längeren Krieg aus. "Wir bereiten uns auf einen Krieg vor, der noch Monate, vielleicht sogar länger dauern wird", sagte EU-Kommissar Thierry Breton gegenüber der französischen Zeitung Le Parisien. Er versprach, die Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine zur Unterstützung der Gegenoffensive zu beschleunigen – unabhängig von den Erfolgen auf dem Schlachtfeld.
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