Der interimistische ungarische Geschäftsträger in Kiew wurde ins ukrainische Außenministerium einbestellt, weil die Russisch-Orthodoxe Kirche ohne Abstimmung mit der Ukraine eine Gruppe ukrainischer Kriegsgefangener aus dem westukrainischen Gebiet Transkarpatien nach Budapest überstellt hat. Das berichten russische Medien unter Verweis auf das ukrainische Außenministerium.
"Die ukrainische Regierung war nicht über die entsprechenden Verhandlungen zwischen der ungarischen und der russischen Seite informiert. Aus öffentlichen Äußerungen des ungarischen Vizeministerpräsidenten haben wir erfahren, dass Russland elf Ukrainer ungarischer Herkunft an Budapest übergeben hat", heißt es in der Erklärung.
Bei diesem Treffen forderte Kiew Budapest auf, detaillierte Informationen über die ukrainischen Staatsangehörigen zu liefern und dem ukrainischen Konsul "unverzüglich Zugang zu ihnen zu gewähren".
Die Überstellung der Kriegsgefangenen sei "im Rahmen der zwischenkirchlichen Zusammenarbeit" auf Ersuchen der ungarischen Seite organisiert worden, teilte das Patriarchat der Russisch-Orthodoxen Kirche am Vortag mit und verwies darauf, dass die Entscheidung durch "christliche Humanität" motiviert sei.
Der stellvertretende ungarische Ministerpräsident Zsolt Semjén bestätigte am Freitag die Überstellung der ukrainischen Militärangehörigen. Er bezeichnete dies als seine "menschliche und patriotische Pflicht" sowie als "eine Geste der Russisch-Orthodoxen Kirche gegenüber Ungarn".
Neben der Russisch-Orthodoxen Kirche war auch der Malteserorden der Römisch-Katholischen Kirche an der Gefangenenüberstellung beteiligt. Diese Organisation hat den Status eines unabhängigen Völkerrechtssubjekts und unterhält als solches diplomatische Beziehungen zu über 100 Ländern weltweit. Der Orden vermittelt auch in internationalen Konflikten und leistet humanitäre Hilfe.
Transkarpatien (historisch auch als Karpatenrus und Karpatenukraine bekannt), das heute Teil der Ukraine ist, hatte bis 1920 zum Königreich Ungarn und damit (bis 1918) zur Habsburgermonarchie gehört. In den Jahren 1920 bis 1939 und 1944 bis 1946 war die Region Teil der Tschechoslowakei geworden. Im Jahr 1946 war die Karpatenukraine vollständig an die Sowjetunion abgetreten worden und Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik geworden.
Laut einer Volkszählung aus dem Jahr 2001 lebten in der Region etwa 150.000 ethnische Ungarn – circa 13 Prozent der Bevölkerung. In manchen Orten stellen sie sogar Mehrheit dar. Viele sind jedoch bereits nach Ungarn ausgewandert oder haben einen ungarischen Pass.
Ungarn hatte zuvor mehrfach zu Friedensgesprächen im Ukraine-Konflikt aufgerufen und gegen die "harten" Einberufungspraktiken der in Transkarpatien lebenden Ungarn in die ukrainischen Streitkräfte ausgesprochen (RT DE berichtete). Das Außenministerium zeigte sich besorgt, dass auch Ukrainer ungarischer Herkunft zu den Streitkräften eingezogen werden, und berichtete von Fällen, "in denen dies mitunter auf brutale Weise geschieht".
Budapest bezeichnete auch die Position der ungarischen Diaspora in der Ukraine als ein Schlüsselthema auf dem Weg zur Genehmigung der Integration des Landes in die NATO und die Europäische Union. Die Unzufriedenheit der Ungarn rührt vor allem von der Sprachenpolitik Kiews her, das den Sonderstatus der Regionalsprache Ungarisch in Transkarpatien aufgehoben hat.
Kiew ist dagegen der Ansicht, dass Budapest den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zur Förderung seiner Interessen nutzt. Zu diplomatischen Spannungen führte auch ein Clip, der auf den offiziellen Kanälen der ungarischen Regierung Ende Mai veröffentlicht worden war. Im Videoappell hatte sie zu Friedensverhandlungen im Ukraine-Konflikt aufgerufen und eine ukrainische Landkarte ohne die Halbinsel Krim gezeigt. Nach Protesten des ukrainischen Außenministeriums wurde das Video gelöscht.
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