Nach dem Beginn der russischen Militäroperation im Februar letzten Jahres sind viele russische Journalisten, Kulturschaffende und Oppositionelle aus Protest ausgewandert. Einige von ihnen, etwa die Spitze der Nawalny-Bewegung oder der Ex-Oligarch Michail Chodorkowski, befanden sich zu diesem Zeitpunkt schon lange im Ausland. Sie erheben schwere Vorwürfe nicht nur gegen Wladimir Putin und die politische Spitze des Landes, sondern auch gegenüber dem russischen Volk. Viele von ihnen wünschen der Ukraine und dem Westen den Sieg über Russland – damit es nach einer Periode der Buße ein "stinknormales Land" wird. Einen darauffolgenden Zerfall des Vielvölkerstaates auf viele Kleinstaaten nehmen sie gerne in Kauf. Einige streben das sogar als Ziel an – damit Russland vom "Imperialismus" geheilt wird.
Der russische Ex-Präsident und Vize-Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, ging in seinem letzten Beitrag auf Telegram mit den Exil-Russen hart ins Gericht. "Sie schwelgen in süßen Träumen darüber, wie gut es sich in unserem Land nach dem Sturz des 'Regimes' leben wird", schrieb Medwedew und verglich die Emigranten mit "Läusen", die "über den schmierigen europäischen Körper verstreut" seien. "Analysten aus der Vergangenheit" seien sie, während das heutige Russland ein ganz anderes Land sei als vor dem Krieg.
Verglichen mit den Exil-Russen aus der intellektuellen Elite wie dem Schriftsteller Iwan Bunin, den Philosophen Nikolai Berdjajew und Iwan Iljin oder dem Sänger Alexander Schaljapin, die das Land nach der Oktoberrevolution von 1917 verlassen haben, seien die heutigen Auswanderer äußerst "mittelmäßig".
Medwedew ist überzeugt davon, dass deren "Träume" niemals Wirklichkeit werden, und erläutert seinen Standpunkt. So glaubt er beispielsweise, dass jeder Politiker, "der versucht, den Diskurs …, der nach dem 24. Februar 2022 entstanden ist, zu ändern", unweigerlich "als Verräter geächtet werden wird".
"Diejenigen, die heute von einer Rückkehr in die freundliche europäische Familie träumen, können nur jene Abtrünnigen sein, die den Tod unserer Bürger vergessen haben."
Gemeint waren die Soldaten und Zivilisten, die im bewaffneten Konflikt mit der von der NATO unterstützten Ukraine seit 2014 gestorben sind. Medwedew nahm dazu Bezug auf den Großen Vaterländischen Krieg gegen Nazi-Deutschland: "Stellen wir uns das Unvorstellbare vor, dass die UdSSR Ende der 1940er-Jahre zusammengebrochen wäre. Und dass die neue, 'demokratisch gewählte' Führung Russlands verkündet hätte, dass der Krieg mit den Deutschen ungerecht war, dass Hitlers Regime unschuldig gelitten hat und dringend Frieden mit ihm geschlossen werden sollte. Es ist klar, was mit solchen Spinnern geschehen wäre." Im heutigen Russland sieht er keine Chance für eine "triumphale Rückkehr solcher Figuren":
"Diese Reliquien sind einsam und niemand braucht sie. Lasst sie leben und mit der vor Wut aufgestauten Galle verenden. Vielleicht erinnern sie sich bei einem Glas Rotwein sehnsüchtig an die verlorene Heimat und den früheren Ruhm."
Aussagen russischer Exil-Intellektueller in deutschen Medien
Viele Emigranten arbeiten gerne mit deutschen und anderen westlichen Medien zusammen, etwa der Schriftsteller Wiktor Jerofejew, der eine eigene Kolumne bei der Deutschen Welle und in der Welt hat. Er "prophezeite" direkt nach der Krim-Angliederung "den Anfang vom Ende Putins". Im Januar desselben Jahres 2014 diskutierte er auf dem oppositionellen Fernsehkanal "Doschd" über die Frage, ob das Überlassen der Stadt Leningrad an Nazi-Deutschland nicht Hunderttausende Einwohner vor dem Hungertod gerettet hätte.
Seit dem Beginn der russischen Militäroperation schreibt Jerofejew regelmäßig für die Welt und versuchte etwa, die tiefenpsychologischen Ursachen für die angebliche Liebe der Russen zur "Verletzung jeder Norm" zu ergründen. "Der Russe ist glücklich, wenn er zerstört", behauptet der 75-Jährige beispielsweise. Außerdem seien die Russen gnadenlos gegenüber ihren Feinden, weil sie von einem Überlegenheitsgefühl "Wir sind besser als alle" beseelt seien. Die Ukrainer stünden Jerofejew zufolge hingegen für das "Europäische", sie wollen die finstere "russische Welt" verlassen, das russische "Asiatentum". Rassistische Äußerungen dieser Art finden bei seinen Welt-Lesern 90-prozentigen Zuspruch:
"Wir müssen die Ukraine in ihrem Kampf gegen die Barbarei mit allen verfügbaren Mitteln unterstützen", schreibt etwa Dr. Hans K. Ihm pflichtet Wera B. bei: "Nicht nur müssen wir die Ukraine mit allen Mitteln unterstützen. Fast noch wichtiger wäre es, russische Oppositionelle massiv zu unterstützen und ihnen zu helfen, sowas wie eine 'Exilregierung' zu bilden, um der Welt zu zeigen, dass Ru eben nicht nur DAS unzivilisierte archaische Übel ist, das Jerofejev sehr treffend beschreibt". Wiktor Jerofejew lebt und arbeitet in Berlin, wo er regelmäßig Lesungen und Diskussionsrunden veranstaltet.
Ein weiterer prominenter Emigrant ist der Psychologe und Ex-Politiker Leonid Gosman. In einem Bild-Interview sagte er: "Als Patriot Russlands wünsche ich mir den ukrainischen Sieg. Ein russischer Sieg bedeutet den Tod unseres Staates. Wenn die russische Armee den Krieg gewinnt, wird es nicht nur für die Ukraine eine Tragödie sein, sondern auch für Russland. Wir werden dann in dieser wilden, wahnsinnigen Archaik stecken bleiben, wir werden Sklaven bleiben." Der 72-Jährige lebt derzeit in Italien.
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