Russlands Jahrhundertaufgabe: "Radikale Umgestaltung der Ukraine in all ihren Erscheinungsformen"

Eine Koexistenz zwischen Russland und der Ukraine als radikale Form eines Anti-Russlands ist unter keinen Umständen möglich. Droht der Region also der ewige Krieg? Russlands Rat für Außen- und Verteidigungspolitik mit mehr als 200 Experten diskutierte in Moskau die Wege aus der Ukraine-Krise.

Von Wladislaw Sankin

Traditionell für diese Zeit des Jahres fand in Moskau am Wochenende die jährliche Versammlung des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik (RAVP) statt. Diesmal mit dem Titel "Selbstbestimmung inmitten des Sturms. Russland und die Welt am Wendepunkt der Geschichte". Wie auch in den Vorjahren war das Gremium hochkarätig besetzt: Mehr als 200 Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Politik und Militär nahmen daran teil.

Viele Regierungsvertreter, darunter der Außenminister Sergei Lawrow, waren zugegen ‒ ein weiteres Zeichen dafür, dass die diskutierten Ansätze kein bodenloses Theoretisieren sind, sondern unmittelbar anwendungsorientiert. Deshalb finden die meisten Panels der Versammlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Selbst die Teilnehmer dürfen im Anschluss nur unter Verzicht aufs wörtliche Zitieren über ihre Eindrücke berichten.

Dieses Mal stand die Experten-Versammlung ganz im Zeichen der Ukraine-Krise. Eine der Sitzungen hieß "Zukunft der Ukraine: Szenarien". Der Chef-Redakteur des Nachrichtenportals Baltnews, Journalist und Politikwissenschaftler Alexander Nossowitsch berichtete über die Ergebnisse der Diskussion auf seinem Telegram-Kanal.

Der Experte vergleicht die Ukraine mit einem privaten Militärunternehmen, einem ewigen Militanten (страна-боевик), dessen Lebensgrundlage der Sold für militärische Dienstleistungen im Interesse des von den USA angeführten kollektiven Westens ist. "Krieg ist für einen Staat wie die Ukraine die einzige Möglichkeit, zu existieren. Nicht einmal für das Selenskij-Regime, sondern für den Staat Ukraine. Dies ist die Schlussfolgerung, die die Experten auf der Sitzung über die Ukraine im Rahmen der RAVP-Versammlung gezogen haben", schreibt Nossowitsch.

Er zitiert führende Persönlichkeiten aus dem Selenskij-Umfeld, die immer wieder betonen, dass der Hass auf Russland, welches das Böse verkörpert, und die Vorstellung von den Russen als mythische Vertreter der Unterwelt (Orks) die Grundlage der ukrainischen Staatsidee darstellen. Diese zutiefst rassistische Ideologie und politischen Erklärungsmuster seien zwar äußerst primitiv und kindisch, aber in der politischen Praxis durchschlagend effektiv.

Dabei sei in der Ukraine bereits eine soziale Grundlage für eine dauerhaft stabile Militärdiktatur entstanden. "Millionen von Menschen, die von der Militärhilfe der USA und der EU leben, wissen, dass das Geld an sie geht, solange der Krieg andauert. Die einzige Alternative sind Gegenleistungen und Reparationen von Russland, wofür es besiegt, besetzt und zerstört werden muss. Wenn das nicht möglich ist (und selbst die Großmäuler wissen, dass das unmöglich ist), dann muss der Krieg ewig weitergehen."

Das Einfrieren des bewaffneten Konflikts ist nach Meinung russischer Experten zwar vorübergehend denkbar, stellt aber keine realistische und dauerhaft stabile Lösung dar. Denn die Ukraine ist auf dem besten Weg, zu einem europäischen Afghanistan zu werden, was im Interesse der USA sei. Für Russland ist dies nicht akzeptabel, wie lange die Lösung des Konflikts auch dauern würde.

"Für Russland ist eine systemische und strategische Lösung nur durch eine radikale Umgestaltung der Ukraine in all ihren Erscheinungsformen möglich. Wenn dieser Prozess Jahrzehnte dauert, wird er Jahrzehnte dauern. Es gibt keine schnellere und einfachere Lösung für die ukrainische Frage."

Die Realität des Ukraine-Krieges besteht aber darin, dass Russland derzeit nicht in der Lage ist, die ukrainische Hauptstadt zu besetzen und damit das Selenskij-Regime zu beseitigen. "Strategisch kann Russland die Ressourcen für die Lösung der ukrainischen Frage durch die Beseitigung des antirussischen Staates akkumulieren, taktisch wird es erschöpft sein und sein Verteidigungspotenzial vergeuden, wenn es alle Ressourcen darauf verwendet, bis nach Lwow oder sogar nur Kiew zu kommen."

Daraus resultiert die optimale Taktik, die darin besteht, "dem Kiewer Regime den Stachel zu ziehen".

"Das Potenzial der Ukraine muss von einer lebenswichtigen Bedrohung für Russland zu einem unbedeutenden Ärgernis wie die baltischen Staaten herabgestuft werden."

Es könnten allerdings Jahre vergehen, bis dieser Zustand erreicht werden kann ‒ darüber sind sich Experten auch inzwischen im Klaren. Jeden Tag führt Russland Präzisionsschläge gegen ukrainische Waffendepots, Ansammlungen von Militärpersonal und -technik durch, was im Westen auch "Zermürbungskrieg" genannt wird. Eigene Geländegewinne im Kampf um nun offiziell russische Territorien der Donezker Volksrepublik und andere Gebiete sind dabei äußerst gering. Das ist auch die Realität, die in Russland verstanden und von den meisten Experten akzeptiert wird.

Diese Situation ist problematisch und birgt viele unkalkulierbare Risiken. Die Ukraine darf sich einerseits nicht dauerhaft als antirussische Militärdiktatur mit Vollkasko-Versorgung einrichten. Auf der anderen Seite gibt es offenbar aus militärischer Sicht keinen schnelleren Weg, das Problem für Russland und seine neuen Territorien zu lösen, als den Weg, der momentan auf dem Schlachtfeld zu beobachten ist.

Trotzdem, auch nach 15 Monaten der ins Stocken geratenen Militäroperation, verliert Russland nicht das Endziel aus dem Blick: Die ukrainische Staatlichkeit, die in ihrer jetzigen Form nur extrem nationalistisch-antirussisch sein kann, muss schon allein aus Sicherheitsgründen beendet werden. Das ist eine Aufgabe, deren Lösung auch auf die nächsten Generationen übertragen werden kann und muss.

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