Von Wladislaw Sankin
Zum Jahrestag des Beginns der russischen Militäroperation lieferte die US-Zeitung Wall Street Journal (WSJ) eine Reportage über den Preis des Krieges für die Ukraine, gemessen in Soldatenleben. Gezählt wurde 100.000 Tote und Verwundete, was laut WSJ die Zahl der US-Verluste in Irak und Afghanistan um das Doppelte übersteigt.
Diese Zahl könnte jedoch stark untertrieben sein. Ende Januar berichtete die türkische Internet-Zeitung Hürseda Haber mit Verweis auf den israelischen Geheimdienst Mossad über die Anzahl der Verluste beider Kriegsparteien. Mossad zufolge hatte die ukrainische Seite am 14. Januar bereits 157.000 tote Soldaten zu beklagen.
Zum Hauptthema des WSJ-Artikels wurden jedoch die Vermissten. "In dem blutigen Chaos sind mehrere tausend ukrainische Soldaten verschwunden", heißt es. Laut einem ukrainischen Beamten könnten es sogar mehr als 10.000 sein. Die tatsächliche Anzahl der Vermissten könnte jedoch noch viel höher liegen.
Im Dezember letzten Jahres hackte die russische Hackergruppe "Anarchist Kombatant" das offizielle Archiv des Chefs des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte, Generalleutnant Sergei Schaptal. Unter den Daten soll auch die Anzahl der gefallenen und als vermisst gemeldeten ukrainischen Soldaten gewesen sein.
Laut dem Dokument gab es mit Stand vom 30. November 35.382 Militärangehörige, deren Familien keine Entschädigung für ihren Tod erhalten werden. Dies ist dann der Fall, wenn ein Soldat als vermisst gilt. Wie die russischen Medien berichteten, entfiel die größte Anzahl der Vermissten auf die reguläre Armee, gefolgt von der Territorialverteidigung und Luftlandetruppe.
Ob die Enthüllung eine Fälschung sein könnte, ist bisher nicht hinreichend belegt, auch ein Dementi liegt derzeit nicht vor. Anfang Februar veröffentlichte das spanische Portal Alerta Digital einen exklusiven Dokumentarfilm ukrainischer Journalisten, der die hohe Zahl an Vermissten mit einem ausgeklügelten Korruptionssystem in der ukrainischen Armee in Verbindung bringt. In Anlehnung an den berühmten Roman von Nikolai Gogol (Erstveröffentlichung 1842), heißt der Film "Tote Seelen". Der Protagonist des Klassikers, ein Hochstapler, kaufte bei einem Gutsbesitzer die Listen der gestorbenen Bauern, um eine Bürgschaft für ein Bankdarlehen vom Staat vorzutäuschen.
Im Film kommt der freiwillige Helfer und Menschenrechtsaktivist Alexei Osker ausführlich zu Wort. Ihm zufolge benutzten die Kommandeure die Schützenkompanien als Kanonenfutter. Die Verwundeten werden auf dem Schlachtfeld zum Sterben zurückgelassen, und alle Toten werden als vermisst geführt, um ihren Angehörigen keine Entschädigung in Höhe von 15 Millionen Griwna zahlen zu müssen.
Das Gehalt der Vermissten wird laut Enthüllung für die gesetzlich vorgesehene Frist von drei Monaten von den Offizieren kassiert – insgesamt 350.000 Griwna pro Kopf (umgerechnet 7.500 EUR). Außerdem wird laut Osker auf diese Weise die westliche Ausrüstung abgeschrieben, die nur auf dem Papier an der Front ankommt und angeblich mit den Soldaten verschwindet, während sie tatsächlich nicht einmal in der Ukraine anommt. Für seine Enthüllung wird Osker nun von der ukrainischen Justiz verfolgt und vom ukrainischen Geheimdienst SBU eingeschüchtert.
"Das Gehalt eines Kämpfers wird zuerst dem Bataillonskommandeur zur Verfügung gestellt. Danach geht der Kämpfer weg, er wird 'vermisst'. Angeblich wird er für drei Monate auf der Liste geführt – es ist, als wäre er auf einer Mission. Der Befehlshaber erhält das Geld für diese drei Monate, und er behält es einfach für sich selbst", erklärt die Autorin des Films, die Journalistin Ksenija Sytchewa, das Betrugssystem gegenüber russischem Portal "TV-Zwezda".
So verschwand fast die gesamte 56. separate motorisierte Infanteriebrigade der ukrainischen Kämpfer spurlos. Die Kämpfer wurden bewußt auf ein Feld gebracht, auf dem es keine Unterstände gab, sodass sie als lebende Ziele für die russische Artillerie dastanden. Alexander, einer der wenigen Überlebenden, kehrte wie durch ein Wunder nach Hause zurück. Er wurde wegen seiner Verwundung demobilisiert. Er sagt, er habe trotzdem Glück gehabt. Im Film beschreibt er:
"Wir kamen dort an und kannten nicht einmal die Namen der anderen, geschweige denn ihre Nachnamen. Sie haben uns einfach zusammengesteckt und dorthin geworfen. Wir hatten einen Kompaniechef, der nicht einmal die Namen der Leute kannte, die zu ihm kamen! Es gibt keine Listen …".
Auch der Chef einer ukrainischen Bergungs- und Suchgruppe, Jaroslaw Schilkin, kommt zu Wort. Seine Anfragen beim Amt des Präsidenten für die Suche nach Vermissten seien ohne Reaktion geblieben. Über das große Desinteresse der ukrainischen Seite an der Bergung der eigenen Toten haben auch die Kämpfer von der russischen Frontseite berichtet. Oft müssen die russischen Soldaten selbst auf eigene Gefahr die Leichen der ukrainischen Soldaten einsammeln und begraben. Eines dieser Massengräber wurde im November in einem Wald bei Isjum unter großem Medien-Getöse ausgehoben. Den Journalisten wurden die halb verwesten Leichen ukrainischer Soldaten als Opfer russischer Grausamkeit gezeigt.
Alexei Osker kümmert sich nicht nur um Witwen der vermissten Soldaten. Er sammelt auch fehlende Ausrüstung für die Armee. Ihm zufolge bereichert sich die Militärführung nicht nur durch Unterschlagung der Soldatengehälter, sondern auch durch Diebstahl von Waffen aus westlichen Hilfslieferungen. Wie der Betrug funktioniert, macht ein beim Zoll aufgeflogener Fall deutlich.
Laut der Lieferpapiere des Verteidigungsministeriums sei der Lastwagen mit Militärausrüstung im Wert von 340.000 Dollar beladen worden. Nach Überprüfung stellte sich heraus, dass der tatsächliche Wert der transportierten Waren nur 10.000 Dollar betrug. "300.000 Dollar wurden laut den Unterlagen einfach abgeschrieben, die Ausrüstung, die das Verteidigungsministerium für 340.000 gekauft hatte, war angeblich für diesen Betrag", sagte Alexej
Zwar liefert der Film keine genauen Daten zum Ausmaß des Betrugs mit den Vermissten. Auch die Position des offiziellen Kiews zu den erhobenen Vorwürfen wird nicht erwähnt. Aber die Praxis, Tausende Zwangs-Mobilisierte fast ohne Ausbildung direkt an die schwierigsten Abschnitte der Front zu schicken, die dort entweder sterben oder in Gefangenschaft geraten, verdeutlicht, dass es in der ukrainischen Armee ein System gibt, das solche Korruptions-Mechanismen ermöglicht. Berichte der flüchtigen oder gefangengenommenen Soldaten über die Willkür der Offiziere im Umgang mit Soldaten bestätigen das. Sehr wahrscheinlich ist sogar, dass die Zwangs-Mobilisierung in der Ukraine nicht nur dem Verteidigungszweck dient, sondern auch der Aufrechterhaltung dieser Korruption.
Mehr zum Thema - Kiew kündigt weiteres Köpferollen an – Diesmal bei Inlandsgeheimdienst, Polizei und Steuerbehörde