Eine Analyse von Alexander Männer
Vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise in Moldawien, dessen Bürger seit Monaten mit steigenden Preisen für Gas, Strom und Lebensmittel zu kämpfen haben, sowie des blutigen Krieges in der benachbarten Ukraine zieht die moldawische Führung es in Betracht, den neutralen Status der "Republik Moldau" zu revidieren.
Die Präsidentin Maia Sandu erklärte kürzlich in einem Interview mit dem Magazin Politico, dass sie die Option erwäge, die Neutralität Moldawiens –, die in der Verfassung des Landes verankert ist –, aufgrund der Kampfhandlungen in der Ukraine aufzuheben. Sandu betonte:
"Jetzt gibt es eine ernsthafte Diskussion … bezüglich unserer Fähigkeit, uns selbst zu verteidigen, ob wir es selbst tun können oder ob wir Teil einer größeren Allianz sein sollten. Und wenn wir irgendwann als Nation zu dem Schluss kommen, dass wir die Neutralität ändern müssen, sollte dies durch einen demokratischen Prozess geschehen."
Um welche "größere Allianz" es sich handeln soll, der Moldawien eventuell beitreten könnte, hat die Politikerin, die übrigens die rumänische Staatsbürgerschaft besitzt, nicht konkretisiert.
Unterstützt wird Sandu zudem von ihrem Außenminister Nicu Popescu, der seinerseits andeutet, dass die Neutralität Moldawiens nicht mehr zeitgemäß sei. Popescu, der auch den Posten des Vize-Premierministers innehat, erklärte laut der Agentur Interfax am Dienstag gegenüber dem Sender Pro TV Chişinău: "Angesichts der Instabilität im eurasischen Raum können wir feststellen, dass unsere verfassungsmäßige Bestimmung über den neutralen Status leider nicht ausreicht, um Stabilität im Land und in der Region zu gewährleisten. Deshalb benötigen wir Unterstützung, Partnerschaft und Ausrüstung, um den Frieden in unserem Land zu bewahren."
Um mit dem neutralen Status des Landes aufzuräumen und eventuell einen Beitritt zur NATO in Angriff zu nehmen, müsste die Führung in der Hauptstadt Chişinău früher oder später eine Verfassungsänderung vornehmen. Dabei gilt es, den 11. Artikel der moldawischen Verfassung zu ändern, wobei die dafür benötigte Parlamentsmehrheit sogar fast problemlos erreicht werden könnte. Ausgehend von der derzeitigen Mandatsverteilung müssten nur wenige oppositionelle Abgeordnete überredet werden, für die Änderung zu stimmen.
Dennoch scheint sich die parlamentarische Opposition in dieser Frage (noch) einig zu sein. Sie lehnt eine Verfassungsänderung ab und plädiert dafür, dass Moldawien weiterhin neutral bleibt, da ein Beitritt zur NATO für das Land höchst gefährliche Aussichten verheißt. Denn im Falle eines militärischen Konflikts etwa um die seit 1992 abtrünnige Region Transnistrien, besteht die Gefahr, dass große Teile der Republik Moldawiens zerstört und Tausende ihrer 2,6 Millionen Einwohner getötet werden.
So in etwa sieht es auch die Bevölkerung des Landes. Laut Meinungsumfragen will die Mehrheit der moldawischen Bürger Neutralität und Frieden bewahren und ist nicht bereit, Teil des nordatlantischen Bündnisses zu werden.
Chişinău ist längst dabei, die Fehler Kiews zu wiederholen
Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass sie vor allem die tragische jüngste Geschichte der Ukraine in Erinnerung ruft, deren Führung den neutralen Status ihres Landes vor mehreren Jahren aus der ukrainischen Verfassung strich und seitdem eine NATO-Mitgliedschaft anstrebt. Eine Folge dieser Politik ist der mittlerweile fast ein Jahr andauernde Krieg mit Russland, der bereits den Tod von zig Tausenden ukrainischen Soldaten forderte.
Dabei gab es in der Ukraine vor nicht so langer Zeit durchaus Voraussetzungen dafür, dass diese Entwicklung niemals eintreten sollte. So waren etwa die Zustimmungswerte für einen ukrainischen NATO-Beitritt genauso hoch wie aktuell in Moldawien. Die Nordatlantik-Allianz hatte 2011 in einem öffentlichen Dokument noch eingestanden, dass "die größte Herausforderung für die Beziehungen zwischen der Ukraine und der NATO in der Wahrnehmung der NATO in der ukrainischen Bevölkerung liegt. Eine NATO-Mitgliedschaft wird im Land nicht weithin unterstützt ‒ einige Umfragen legen nahe, dass die öffentliche Unterstützung dafür bei weniger als 20 Prozent liegt." Dieses Problem wurde nach dem blutigen Machtwechsel in Kiew 2014 aber allmählich und zum Teil brutal gelöst – am Ende gab es in der ukrainischen Politik und Öffentlichkeit kaum noch Stimmen, die eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine infrage stellten.
Was Moldawien betrifft, so wird auch dort bereits versucht, die Wahrnehmung der NATO in der Bevölkerung zu ändern, wenn auch nicht durch Gewalt. Dies geht mit konkreten Schritten der Regierung einher, die Zusammenarbeit mit dem westlichen Bündnis auszuweiten. Zum Beispiel sind bereits ein NATO-Informations- und Dokumentationszentrum eingerichtet und das Programm "Partnerschaft für den Frieden" gestartet worden. Im Rahmen dieses Programms können moldawische Truppen unter anderem an NATO-Manövern teilnehmen. Allerdings ist Moldawiens Armee nach dem Zerfall der Sowjetunion mehr als dreißig Jahre lang vernachlässigt worden und ist daher schlecht ausgerüstet, weshalb Chişinău den Westen in dieser Angelegenheit bereits um Unterstützung bat.
Darüber hinaus sorgt Moldawien für den Transit von Waffen und anderen Rüstungsgütern aus dem NATO-Land Rumänien in die Ukraine und unterstützt damit im Grunde die westlichen NATO-Staaten bei ihrem "Stellvertreterkrieg" mit Russland.
Sollte Moldawien im Hinblick auf die NATO also einen ähnlichen Weg einschlagen wie einst die Ukraine, so könnte die kleine Republik schon bald als antirussisches Instrument des Westens enden und zugleich Gefahr laufen, im Kampf gegen Moskau als "Kanonenfutter" verheizt zu werden.
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