Von Wladislaw Sankin
In vielen ukrainischen Städten finden regelrechte Razzien statt. Kräftige Männer in Tarnuniform – Mitarbeiter von Militärregistrierungs- und Rekrutierungsbüros – riegeln dabei ganze Straßenabschnitte ab, halten Männer im wehrpflichtigen Alter an und händigen ihnen Vorladungen aus. Oft werden die Männer direkt ergriffen, in Autos gezerrt und in unbekannte Richtung weggefahren.
Dieses Vorgehen halten Passanten oder Begleiter der Betroffenen mit Kameras fest und stellen die Videos anschließend ins Netz. An Beispielen für diese Vorfälle mangelt es nicht. Die Szenen spielen sich mitunter in Fitness-Studios, Cafés, auf Bahnhöfen und sogar bei Kirchenmessen und Beerdigungen ab.
"Das ist die Demokratie, die wir verdient haben. Vier kräftige Männer ziehen durch die Wohngegend und fangen junge Kerle am linken Ufer des Dnjepr", kommentiert der Urheber eines solchen Videos.
Manche Szenen sind herzzerreißend, wie eine aus dem Gebiet Tschernigow im Norden. Mutter und Kind flehen die ungeladenen Besucher um Gnade an. Von den Schreien und dem Widerstand der Familie unbeeindruckt setzen die Maskierten die Festnahme indes fort: Der Ehemann und Vater wird mit Gewalt abgeführt.
Wie eine Kuh zur Schlachtbank, könnte man sagen. Oder wie ein Häftling zur Zwangsarbeit. So wie es im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine der Fall war, als die deutschen Nazis und ihre Handlanger Millionen Zivilisten zur Deportation zwangen und als halbe Sklaven behandelten. Leider sind solche Vergleiche keine Übertreibung. Was mit ukrainischen Zwangsrekrutierten im Endeffekt geschieht, erzählen ukrainische Soldaten nicht selten dem russischen Militär kurz nach ihrer Gefangennahme.
So etwa berichtete ein Soldat der 72. Mechanisierten Brigade aus dem westukrainischen Uschgorod, dass Rekrutierer ihn in einem Linienbus auf dem Weg zur Arbeit erwischt hätten. Trotz einer Herzkrankheit wurde er in ein Auto gesteckt und an die Donbass-Front geschickt. "Entweder stirbst du wegen des Herzens, oder wirst du getötet", sei ihm gesagt worden. Das Video dazu hat der russische Radiosender Westi FM auf seinem Telegram-Kanal veröffentlicht.
Der Soldat sagte, dass seine Stellung zunächst mit Artillerie bombardiert und danach gestürmt worden sei. Er bekam eine Quetschung und versteckte sich in einem Schützengraben. Dann, nach einem heftigen Kampf, forderten die Russen ihn und seine Kameraden auf, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Diejenigen, die dies nicht getan haben und weiter kämpften, starben, sagte der Soldat. "Es gab sehr viele Tote", betonte er. Er habe die ukrainischen Soldaten ausdrücklich dazu aufgefordert, sich zu ergeben oder von der Front zu fliehen, um ihre Leben zu retten.
Eine ähnliche Geschichte erzählte Andrei Kowal aus der 68. Jägerbrigade. Auch er wurde auf dem Weg zur Arbeit zwangsrekrutiert. Er bekam vor dem Kampfeinsatz kaum militärische Ausbildung. "Wir haben ein wenig geschossen", sagte er zum Umfang der Militärübung. An der Front geriet der Soldat dann in Konflikt mit seinem Vorgesetzten und sei an die vorderste Linie geschickt worden, ohne Waffen. Während einer russischen Offensive wurde er gefangengenommen. 47 Soldaten seiner Kompanie wurden dabei verwundet oder getötet – mehr als zwei Drittel. Es fällt dem Soldaten schwer, seine Worte auszusprechen, er schluchzt, atmet schwer, offenbar ist er verwundet oder befindet sich im Schockzustand.
Es gibt wenig Gründe, diese Videos nicht für authentisch zu halten. Solche Geschichten werden übereinstimmend immer wieder erzählt. Diese Männer hatten Glück, denn die ukrainische Seite schreckt vor nichts zurück, um solche Gefangennahmen zu verhindern. Ein Offizier der Donezker Volksmiliz, Andrei Marotschko, teilte letzte Woche gegenüber RIA Nowosti mit, dass eine Gruppe von zwölf ukrainischen Soldaten die weiße Flagge gehisst habe, und sofort seien sie vom eigenen Artilleriefeuer eliminiert worden. Diese Angaben, wie auch andere kriegsrelevante Informationen, lassen sich freilich nicht unabhängig überprüfen.
Offenbar werden die Soldaten von Stellung zu Stellung herumgereicht, und die Rotation des ukrainischen Militärs besteht lediglich darin, dass sie einfach alle paar Tagen im Schutze der Nacht auf eine andere Position verlegt werden. Sie sind desorientiert und wissen oft nicht, wo sie sind, sodass auch eine Kapitulation oder das Überlaufen sich sehr schwierig gestalten. Dies schilderte ein Zugführer der Donezker Volksmiliz in einem Livestream auf dem Telegram-Kanal Konkretno. Er und seine Soldaten kämpfen seit Monaten um Marjinka, einen gut gefestigten westlichen Vorort von Donezk.
Natürlich gibt es in der Ukraine noch genug motivierte und kampffähige Männer. Aber ihre Zahl schwindet von Tag zu Tag. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu erklärte, dass im Januar 6.500 ukrainische Soldaten getötet worden seien. Der US-Oberst Douglas Macgregor sagte in einem Youtube-Gespräch, dass Kiew laut dem ukrainischem General Waleri Saluschny seit Beginn der russischen Militäroperation 257.000 Menschen verloren habe. Er soll diese Zahl dem US-amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin und Generalstabschef Mark A. Miley mitgeteilt haben. Noch vor wenigen Monaten hatte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verlautbart, dass bislang 100.000 ukrainische Soldaten gefallen sei. Diese Information wurde bislang mit keiner Gegenzahl widerlegt. All diese Angaben sprechen dafür, dass in der Ukraine derzeit das weltweit größte Soldatensterben seit dem Vietnam-Krieg stattfindet.
In den letzten Wochen haben auch die westlichen Medien diesem Thema Aufmerksamkeit geschenkt. So berichtete die New York Times über mit Leichen ukrainischer Soldaten überfüllte Krankenhäuser im nahen Hinterland, westlich der umkämpften Stadt Bachmut (Artjomowsk). Der französische Fernsehsender France 24 filmte eine Beerdigung auf dem Soldatenfriedhof in Charkow: "Gräber, so weit das Auge reicht", sagte der Reporter, inzwischen ruhten fünfhundert Soldaten hier. Zu Grabe getragen wurde in dem Film ein 40-jähriger ukrainischer Artillerist; mit dabei: Mutter, Frau und Tochter.
"Warum haben wir diesen Krieg im 21. Jahrhundert?", fragte eine bei der Zeremonie anwesende Frau, vermutlich eine Freundin. "Der genetische Pool, die Zukunft unseres Landes wird getötet, wenn so viele junge Männer sterben. Ich habe keine Worte, um meine Emotionen zu beschreiben", sagte weinend eine andere.
Sinnloses Sterben? Mitnichten. Laut Kiewer Offiziellen sterben die einfachen Ukrainer für ein höheres Ziel, für westliche "Werte" und den Sieg über Russland – den angeblichen Traum der Menschheit. So sagte es der ukrainische Botschafter in Großbritannien und Ex-Außenminister, Wadim Pristaiko, gegenüber der britischen Zeitschrift Newsweek im Januar:
"Der Westen hat jetzt eine einzigartige Chance. Es gibt nicht viele Nationen auf der Welt, die es sich erlauben würden, so viele Menschenleben, Territorien und Jahrzehnte der Entwicklung zu opfern, um den Erzfeind zu besiegen."
Noch deutlicher äußerte sich der ukrainische Verteidigungsminister, Alexei Resnikow, in einem Interview – mit Blick auf die westlichen Waffenlieferungen:
"Wir erfüllen heute die Mission der NATO, ohne ihr Blut zu verlieren, mit dem Verlust unseres Blutes. Deshalb müssen sie (die NATO) für die Waffen aufkommen."
Russland hat hingegen mehrfach signalisiert, dass es nicht wolle, dass in der Ukraine so viele Soldaten sterben. Russland wolle keinen Krieg bis zum letzten Ukrainer, sagte der Chef des Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergei Naryschkin, gegenüber RIA Nowosti. Und er fügte hinzu:
"Wir verstehen, dass der Großteil der ukrainischen Bevölkerung normale Menschen sind, die ein friedliches Leben führen wollen. Aber diese Menschen sind sowohl Geiseln als auch Opfer des totalitären Kiewer Regimes und Opfer der aggressiven Politik des NATO-Blocks geworden."
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