Warschau drängt auf deutsche Reparationen – von Kiew will es Kulturschätze

Polens mehrschichtiger Druck auf Deutschland verstärkt sich: Die UNO und die USA wurden nun offiziell um Hilfe gebeten, um gegen Berlins Zahlungsunlust vorzugehen. Gleichzeitig zieht Warschau in Erwägung, ukrainische Kulturschätze "vorübergehend" zu verwahren.

Von Elem Chintsky

Seit ein paar Tagen ist eine offizielle Bitte des polnischen Außenministeriums an die UNO, insbesondere an ihren Generalsekretär António Guterres, hinausgegangen, um den Reparationszahlungen eine internationale Austragungsbühne zu ermöglichen. Auch wurde von den Polen ein Appell an die USA herangetragen, mit der Bitte, der "Reparationsfrage" im US-Kongress eine weitaus höhere Dringlichkeit zu verleihen. Bisher wurden keine offiziellen Antworten – weder von der UNO noch den USA – publik gemacht. Berlin wiederum hat der polnischen Führung gegenüber bis zuletzt jegliche bilaterale Aussichten auf Verhandlungen im Bereich zukünftiger Reparationen ausgeschlossen.

Die Ereignisse um die polnische Nachbarschaftspflege durch die Warschauer Führung im neuen Jahr wurden in wenigen Sätzen klar vom russischen Politologen, Autor und Ausleger der Feinheiten "kognitiver Kriege", Semjon Uralow, auf Telegram kommentiert:

"Warum Warschau die Frage der Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg von Berlin erzwingt.

Die Szlachta [hier 'die heutigen polnischen Eliten' gemeint] ist äußerst pragmatisch. Der Dritte Weltkrieg steht vor der Tür, und bald werden alle Rechnungen für den zweiten Krieg beglichen sein. Es ist notwendig, sich zu beeilen und Forderungen an Berlin zu stellen, solange dort schwache Politiker und reine Marionetten der USA an der Macht sind.

Die Szlachta hat es eilig, denn sie weiß, dass der Tanzball bald vorbei sein wird, die Kutsche sich wieder in einen Kürbis verwandelt – Polen hingegen in eine Hyäne Osteuropas.

Auch die ständigen Klagen über Deutschland halten den polnischen Nationalismus in Form, ebenso wie der Hass auf Russland.

Man könnte sagen, dass die Polen es geschafft haben, eine nationale Idee zu finden: Sie hassen Russland, mithilfe der Ukraine, dank deutschem Geld.

Ein perfektes System, das jahrzehntelang funktionieren könne."

Uralows Einschätzung mag manchen zu grob erscheinen, besonders der Begriff "Hyäne", der weitestgehend als Bezeichnung für Polen und seine Außenpolitik gilt, als es zusammen mit Nazi-Deutschland 1938 die Tschechoslowakei annektierte, bevor die slawische Republik im März 1939 vollkommen aufgelöst wurde. Dieser Begriff kommt nicht von ungefähr und ist zurückzuführen auf einen Gedankenhergang Winston Churchills in seinem 1948 erstmals publizierten Buch "The Gathering Storm". In Kapitel 19 namens "Prague, Albania, and the Polish Guarantee", auf Seite 285, attestiert der zweifache Premierminister Großbritanniens der damaligen polnischen Regierungselite den "Appetit einer Hyäne".

Entgegen der NATO-treuen, neoliberalen Geschichtsvertuschung – die so gerne der Einfachheit halber bei irritierenden Debatten als letzte Instanz beteuert wird – nämlich, dass der Titel Polens als "Hyäne Europas" gänzlich ein Hirngespinst des "bösen, russischen Internets" sei, ist somit unangebracht. Es zeigt nur, dass Russen im Vergleich zu ihren im Westen lebenden Mitbürgern viel gewillter und interessierter sind, westlich ausgelegte Sieger-Literatur zu lesen. Ganz zu schweigen davon, wie wenig Menschen in der EU oder in den NATO-Ländern insgesamt sowjetische oder russische geschichtsrelevante Literatur lesen.

Polens "Hilfe" beim Umzug ukrainischer Kulturgüter – Neuer Standort: Polen

Nachdem der polnische Vize-Kulturminister Jarosław Sellin im polnischen Radio Jedynka Polskie Radio rhetorisch gefragt hatte, "wozu wir [die Polen] andere Fronten bräuchten?", gab er daraufhin die Antwort, dass es einzig und allein gilt, Russland, das laut dem Volksvertreter "die Welt destabilisiert und zerstört", zu besiegen. Das solle die einzige Herausforderung, die einzige "Front" des kollektiven Westens sein, so Sellin. Dabei übersieht der polnische Minister im Radio-Interview, dass seine Regierung eine "zweite Front" hegt und ausbaut – mit Reparationsforderungen von zurzeit nicht banalen 1,3 Billionen Euro, seinem westlichen Nachbarn, der Bundesrepublik Deutschland, gegenüber.

Die polnische PiS-Regierung wird höchstwahrscheinlich trotzig bleiben und die Reparationsforderung an Berlin – die, wie oben beschrieben, nun eine bilaterale Dimension verlassen hat – nicht als eine von sich aus aufrechterhaltene "Front" anerkennen. Hier macht also die polnische Führung eine unbekümmerte Ausnahme. Immerhin ist 2023 ein Wahljahr, und es braucht ein paar innerpolitische Themen, die das Volk noch vermögen zu teilen. Mit parteiübergreifendem Russlandhass allein gewinnt man keine Wahlen in Polen.

Im selben Gespräch spricht Sellin Polens Bemühungen, mobile Kunst- und Kulturgüter aus der Ukraine nach Polen zu verfrachten, an. Ab Minute 16, Sekunde 30, beginnt das Gesprächssegment zum Ukraine-Krieg und der Frage dazu, was die polnische Führung alles bisher getan hat, um ihre ukrainischen Kollegen beim Schutz ihrer unbeweglichen Kulturgüter vor Kriegsschaden zu unterstützen. Eine Masse an relevanten Materialien, die normalerweise unbedingt nötig seien, um Kirchengebäude oder Denkmäler besser abzuschirmen, werden von Minister Sellin als bereits erbrachte Hilfeleistung genannt.

Mit mobilen Kunstgütern, wie Gemälden, verhält es sich ein wenig anders, und hier wird es bereits interessanter. Sellin rühmt sich mit der Tatsache, dass die kulturell-humanitäre Unterstützung Polens in diesem Gebiet bisher so weit ging, dass man zwischenzeitig schon Gemälde aus der Lwower Kunstgalerie (Stadt Lwow, Westukraine) von dem polnischen Maler Jacek Malczewski übernommen hat. Die Kunstwerk-Sammlung Malczewskis soll wohl vom Umfang her die wichtigste ihrer Art sein, da die Galerie schon ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts begann, die Werke des polnischen Künstlers bei sich zu sammeln. Erst Anfang der 2000er Jahre wurde bekannt, dass viele weitere Gemälde Malczewskis in der Galerie gar nicht ausgestellt waren, sondern in den Kellern der Einrichtung verharrten.

Warum aber nur die Gemälde eines bekannten polnischen Künstlers in Sicherheit gebracht wurden, andere Kunstobjekte der Galerie aber in Lwow verblieben sind, erklärt Sellin nicht direkt – sind sie doch genauso von Zerstörung bedroht wie die polnischen Werke. Er erwähnt aber, dass es letztendlich eine "Entscheidung der Ukrainer sei", wie das systemisch genau angegangen werden soll. De facto bedeutet das, dass wohl ein Angebot Polens laufend im Raum steht, alle – nicht nur von polnischen Autoren – mobilen Kunstgüter für die Dauer der Kriegshandlungen "vorübergehend" ins polnische Gebiet zu transportieren, aber ein ukrainisches Zögern bisher eine solche Operation vereitele. Worauf dieses Zögern genau begründet ist, gehört zurzeit noch in den Bereich der Spekulation. Ein Erklärungsansatz wäre wohl, dass gewisse Kreise in der ukrainischen Führung Bedenken haben könnten, was den Verbleib dieser Kunstwerke nach einem Ende des Krieges betrifft. Was auch immer von der jetzigen Staatlichkeit und Geografie der Ukraine nach dem Krieg in den westlichen Einflussraum entlassen wird, müsste sich gegenüber den westlichen Partnern auch zu Kredit- und Hilfsleistungsrückzahlungen an den Westen langfristig verpflichten. Dass aber zu Beginn keine solchen getätigt werden, könnten solche Gemälde und Kunstsammlungen durch die westlichen Bürgen als Pfand oder Alternativ-Zahlung verbucht werden.

Zwar sehen sich die Polen regional als die Bürgen des jetzigen Kiewer Regimes, aber Warschau selbst ist auch bei Brüssel zahlungsverpflichtet und langjähriger Netto-Empfänger aus dem EU-Haushalt, den historisch die Bundesrepublik Deutschland am meisten mit Kapital füllt. Über dem polnischen Staatshaushalt und seinen Finanzen schwebt ein riesiges Fragezeichen – besonders mit den noch nicht ausgezahlten EU-Geldern im Wert von gegenwärtig 23,9 Milliarden Euro, deren Schicksal aus politischen Gründen in der Schwebe liegen.

Eine lange Kausalkette aus einer "Diplomatie der Schuldenfallen" würde am Ende einfach zu einem Vermögenstransfer – hier illustriert durch die Wanderung signifikanter Kunst- und Kulturgüter aus der Ukraine oder einer kosmischen Geldüberweisung aus Berlin – innerhalb der ohnehin schon wankenden EU führen.

Kulturminister Sellin spricht offen darüber, die Kosten für Polens innen- und außenpolitische Aktivitäten vom eigenen, nationalen Haushalt abzukoppeln und diese an den kollektiven EU-Haushalt anzuschließen. Wie auch immer Warschau das polnische Glücksrad dreht, es muss und darf auf Kosten der Nachbarn geschehen. Am besten, bevor der nächste Weltkrieg beginnt.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017.

Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, wo man noch mehr von ihm lesen kann.

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