Von Dagmar Henn
Der französische Historiker Emmanuel Todd, der dem Niedergang der USA bereits 2002 ein Buch gewidmet hatte, sieht diese unter Zeitdruck. In einem Interview mit der Zeitung Le Figaro sagte Todd: "Biden muss sich jetzt beeilen. Amerika ist zerbrechlich, und der Widerstand der russischen Wirtschaft schiebt das imperiale System der USA auf den Abgrund zu." Den schwindenden Einfluss auf der Welt versuchten sie auszugleichen, indem sie ihre "ursprünglichen Protektorate" stärker unter Druck setzten:
"Wenn die russische Wirtschaft langfristig den Sanktionen widersteht und es ihr gelingt, die europäische Wirtschaft auszubluten und mit chinesischer Unterstützung zu überleben, dann wird die monetäre Kontrolle der USA über die Welt zusammenbrechen und mit ihr die Möglichkeit der USA, ihr ungeheures Handelsdefizit für beinahe nichts zu finanzieren. Dieser Krieg ist für die USA existenziell."
Todd ist überzeugt, dass der Dritte Weltkrieg bereits begonnen hat:
"Es ist offenkundig, dass der Konflikt, ursprünglich ein begrenzter Territorialkrieg, sich zu einer globalen wirtschaftlichen Konfrontation zwischen dem ganzen Westen auf der einen und Russland, unterstützt von China, auf der anderen [Seite] entwickelt hat, ein Weltkrieg geworden ist."
Er wagt sogar eine Zeitprognose und spricht von fünf Jahren. Nachdem Todd schon in seinem Buch von 2002 den Europäern geraten hatte, auf Abstand zu den Vereinigten Staaten zu gehen, aber genau das Gegenteil erfolgt ist, sieht er die Lage für Europa pessimistisch. "Wir zählen die Quadratkilometer, die die Ukrainer eingenommen haben, während die Russen auf den Absturz der europäischen Wirtschaften warten. Wir sind ihre Hauptfrontlinie."
Obwohl augenblicklich nach Sicht von Todd sowohl die USA als auch Russland ein Interesse am wirtschaftlichen Scheitern Europas haben, beruht das russische auf Selbstverteidigung, während das US-amerikanische Interesse darauf beruht, Reste imperialer Macht halten zu wollen.
Der interessanteste Punkt an den Aussagen von Todd ist allerdings, dass sie in einem Interview in Le Figaro erschienen. Le Figaro ist eine konservative französische Zeitung, die dem Rüstungsunternehmer Serge Dassault gehört. Zusammen mit Le Monde ist die Zeitung das Herz des französischen Mainstreams, ähnlich wie in Deutschland die FAZ und die Süddeutsche Zeitung.
In keinem der beiden Blätter wäre Vergleichbares derzeit denkbar. Davon zu reden, dass die Vereinigten Staaten ein Interesse daran haben, Europa zu ruinieren, ist hier nicht statthaft. Stattdessen fordert man Panzer und immer mehr Panzer und prügelt immer punktgenau in jenen Momenten auf die Bundesregierung ein, in denen diese zarteste Ansätze von Vernunft zeigt. So weit wie in Frankreich ist man im bundesrepublikanischen Mainstream offenbar noch lange nicht.
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