"Noch nicht alle Brücken abgebrochen" – Hat Nord Stream 2 eine Zukunft?

Technisch können die durch einen Sabotageakt im September beschädigten Nord-Stream-Gasleitungen unter erheblichem Einsatz von Geld und Zeit wieder funktionstüchtig gemacht werden. Vorrang hat die politische Entscheidung über die Zukunft des Projektes, die in erster Linie Deutschland und die EU zu treffen haben.

Von Irina Taran und Elisaweta Komarowa

Die Untersuchung der Sabotage der Nord-Stream-Gaspipelines wird fortgesetzt, so die Europäische Kommission. Gleichzeitig wurde das Insolvenzverfahren gegen den Betreiber von Nord Stream 2 um sechs Monate verlängert. Moskau ist der Ansicht, dass es technisch möglich ist, die beschädigten Leitungen zu reparieren, dies allerdings unter Einsatz von viel Geld und Zeit. Nach Ansicht von Experten erfordert die Wiederherstellung der Pipelines jedoch zunächst einmal Garantien der EU für die Inbetriebnahme der Anlagen sowie den politischen Willen der europäischen Beamten und ihre Bereitschaft, die antirussische Politik zu beenden.

Ermittlungen dauern an 

Anitta Hipper, Beauftragte der Europäischen Kommission für innere Angelegenheiten, Migration und innere Sicherheit, erklärte in der vergangenen Woche, dass die Untersuchung des Nord-Stream-Vorfalls noch andauere.

Die Kommission sei durch die schwedischen Behörden in Kenntnis gesetzt worden, dass die Schäden an den Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 durch vorsätzliche Sabotage verursacht wurden. Die Untersuchungen des Vorfalls, die parallel in Schweden, Dänemark und Deutschland stattfinden, seien jedoch noch nicht abgeschlossen. Sie fallen in die Zuständigkeit der EU-Mitgliedsstaaten, die Kommission könne auf sie keinen Einfluss nehmen, erklärte Hipper.

Der stellvertretende russische Ministerpräsident Alexander Nowak sagte am 25. Dezember 2022, dass die technische Möglichkeit zur Reparatur von Nord Stream bestehe, aber "es braucht Geld und Zeit". Nach Angaben der New York Times hat die Nord Stream AG Ende Dezember mit der Schätzung der Kosten für die Reparatur der gesprengten Rohre und die Wiederherstellung der Gasversorgung begonnen.

Ende Dezember veröffentlichte das schweizerische Bundesamt für Handelsregister einen Gerichtsentscheid des Kantons Zug, wonach das Konkursverfahren der Nord Stream 2 AG, der Betreiberin der Nord-Stream-2-Gaspipeline, bis zum 10. Juli 2023 verlängert wurde. In dem Dokument wird darauf hingewiesen, dass das Gericht das vorübergehende Moratorium für die Rückzahlung von Darlehen für Nord Stream 2 für diesen Zeitraum verlängert hat. Das Schweizer Unternehmen Transliq AG bleibt vorläufiger Insolvenzverwalter.

"Ein Akt des internationalen staatlichen Terrorismus"

Die Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 sind am 26. September 2022 an Abschnitten nahe der dänischen Insel Bornholm angegriffen worden. Nach Angaben des schwedischen Sicherheitsdienstes wurden am Ort der Explosionen Fremdkörper mit Sprengstoffspuren gefunden und beschlagnahmt.

Am 30. September erklärte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede im Kreml nach den Referenden in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie in den Regionen Cherson und Saporoschje, dass angelsächsische Kräfte an der Organisation von Terroranschlägen auf Gaspipelines beteiligt gewesen seien. Später erklärte der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, dass Washington einer der Nutznießer der Terroranschläge sei.

Im Westen wurde jedoch spekuliert, dass Russland die Angriffe auf Nord Stream selbst durchgeführt haben soll. Der russische Botschafter in Italien, Sergei Rasow, widersprach derartigen Verschwörungstheorien am 6. Oktober im Fernsehsender Rai 1 und bezeichnete solche Behauptungen als "russophobe Propaganda".

Später, am 21. Dezember, veröffentlichte die Washington Post (WP) einen Artikel, in dem es hieß, dass immer mehr Beamte in westlichen Ländern davon überzeugt seien, dass Russland nicht an der Sprengung von Nord Stream beteiligt war.

"Es gibt derzeit keine Beweise dafür, dass Russland hinter der Sabotage steckt",

zitiert die WP einen europäischen Beamten und beruft sich auf die Einschätzung von 23 Diplomaten und Mitarbeitern von Geheimdiensten aus neun Ländern, die die Zeitung in den letzten Wochen befragt habe. Wie die Autoren des Artikels feststellen, haben einige Beamte direkt erklärt, dass sie Russland nicht für den Sprengstoffanschlag auf die Pipelines verantwortlich machen.

Am 22. Dezember antwortete Putin auf Fragen von Journalisten, dass "jeder anerkannt hat", dass es sich bei den Ereignissen bei Nord Stream um einen Terroranschlag handelt. Gleichzeitig erklärte der russische Staatschef, dass der Angriff mit Unterstützung mehrerer Länder durchgeführt worden sei. Putin sagte:

"Dies ist ein Akt des internationalen, ich würde sagen, staatlichen Terrorismus. Warum? Einzelpersonen, Privatpersonen sind ohne die Unterstützung staatlicher Strukturen nicht in der Lage, solche Terrorakte auf eigene Faust zu begehen. Es ist klar, dass dies mit staatlicher Unterstützung geschehen ist."

Putin zufolge wurde Nord Stream von denjenigen gesprengt, die daran interessiert sind, dass der Transit von russischem Gas nach Europa ausschließlich durch die Ukraine erfolgen kann. Der russische Präsident bemängelte, dass die terroristischen Anschläge auf die Pipelines nicht vollständig untersucht werden und Russland nur ein einziges Mal die Möglichkeit bekam, die Explosionsorte zu inspizieren.

"Unbequeme Ergebnisse werden herausgefiltert"

Igor Juschkow, ein führender Analyst des Nationalen Energiesicherheitsfonds, zeigt sich in einem Kommentar für RT überzeugt, dass die russische Seite absichtlich aus den Ermittlungen herausgehalten wird. Der Experte betonte:

"Die EU hat nicht einmal eine gesamteuropäische Kommission (für die Ermittlungen) gebildet. Das zeigt, dass sie sich innerhalb der Union nicht einmal gegenseitig vertrauen, geschweige denn der Russischen Föderation. Schweden, Dänemark und Deutschland verfolgen mit ihren Ermittlungen möglicherweise unterschiedliche Ziele: Einige wollen die Einzelheiten des Geschehens herausfinden, andere nicht. Aber alle haben sicherlich die Absicht, Beweise für die Beteiligung der USA und anderer westlicher Länder an der Sabotage zu verbergen, deshalb wollen sie Russland nicht in den Prozess einbeziehen. Der Westen wird unliebsame Untersuchungsergebnisse herausfiltern und nur das veröffentlichen, was (für die USA) unschädlich ist."

Alexander Frolow, stellvertretender Generaldirektor des (russischen) Nationalen Energieinstituts, bezeichnete die Situation im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den Terroranschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines in einem Gespräch mit RT als merkwürdig: 

"Eine der größten Pipelines der Welt und die wichtigste für die EU wurde gesprengt. Nord Stream war eine Energieleitung für die Europäische Union, und das sollte Nord Stream 2 auch sein. Es ist sehr merkwürdig, dass die Ermittlungen so langsam und sogar träge verlaufen. Es hat ein terroristischer Akt von internationalem Ausmaß stattgefunden, und die Reaktion hätte dem angemessen sein müssen, aber wir sehen sie nicht vonseiten der Europäischen Union."

Frolow glaubt auch, dass der Grund für die "träge Reaktion" in der Tatsache liegt, dass die europäischen Behörden wissen, "wohin ihre Ermittlungen führen können und nicht alle Informationen an die Öffentlichkeit weitergeben wollen".

"Sie wollen die Tür offen halten"

Gleichzeitig beruht die Entscheidung, das Insolvenzverfahren des Nord-Stream-2-Betreibers um sechs Monate zu verlängern, auf dem Wunsch der EU-Beamten, sich abzusichern, so der Experte. Frolow wörtlich: 

"Die EU und die Schweiz hoffen offenbar immer noch, dass sich die Situation irgendwie von selbst lösen wird und Europa immer noch die Möglichkeit hat, die Wiederherstellung und Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erreichen."

Auch Juschkow wertet die Verlängerung des Insolvenzverfahrens gegen den Betreiber von Nord Stream 2 als Versuch, dieses Projekt nicht endgültig scheitern zu lassen:

"Für europäische Beamte ist es jetzt vorteilhafter, sich die Möglichkeit vorzubehalten, Nord Stream 2 in Zukunft mit mindestens einem Strang zu nutzen, durch den Gas transportiert werden kann. Europa hütet sich davor, endgültig alle Brücken hinter sich abzubrechen, denn wenn es in der EU zu einem Energiekollaps kommt, könnte auch diese Option als letztes Mittel benötigt werden. Und wenn Nord Stream 2 in Konkurs geht, wird es sehr viel schwieriger sein, ein solches Szenario zu starten."

Gleichzeitig sind sich die Experten einig, dass eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Nord Stream wieder in Betrieb genommen werden kann. Insbesondere, so Frolow, müsse in der Situation mit Nord Stream 2 zunächst die Frage der Genehmigung für den Betrieb dieser Gaspipeline durch die EU geklärt werden.

Was die ältere Nord-Stream-Pipeline betrifft, so weist Frolow darauf hin, dass die Kompressorstation Portowaja, die Gas durch die Pipeline pumpt, repariert werden muss, bevor die Rohre wieder aufgebaut werden können.

Neben der Lösung technischer und juristischer Fragen sollte auch eine Normalisierung der politischen Beziehungen zwischen Russland und der EU stattfinden, so die Experten. Juschkow abschließend:

"Ohne diese (ohne normalisierte Beziehungen – d. Red.) können die Pipelines nicht wiederhergestellt werden. Russland wird nur dann bereit sein, die Nord-Stream-Leitungen zu reparieren, wenn es Garantien dafür hat, dass sie in Zukunft genutzt werden. Russland verfügt über die technischen Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Pipelines. Ihr Wiederaufbau erfordert jedoch in erster Linie den politischen Willen der europäischen Beamten und ihre Bereitschaft, die antirussische Politik zurückzustellen."

Übersetzt aus dem Russischen. 

Mehr zum Thema - New York Times zu Nord Stream: Der US-Nebelwerfer

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