Eine Analyse von Rachel Marsden
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine spiegele den Balkan wider, in seinem Kampf zwischen "Autokratie und dem Recht des Stärkeren" und "Demokratie und Rechtsstaatlichkeit", sagte vergangene Woche die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, während eines Partnerschaftsgipfels zwischen der EU und dem Westbalkan in der albanischen Hauptstadt Tirana.
Das letzte Land auf dem Balkan, das tatsächlich in die Europäische Union eintrat, war Kroatien im Jahr 2013. Und im aktuellen Jahr mussten die Länder des Balkans das Spektakel über sich ergehen lassen, wie Brüssel in die Ukraine eilte und Kiew den Status eines EU-Beitrittskandidaten verlieh.
Zum Vergleich: Albanien brauchte fünf Jahre, um den Status eines Beitrittskandidaten zu erlangen, was 2014 erfolgte. Serbien, Kandidat seit 2012, brauchte drei Jahre, und Montenegro, Kandidat seit 2010, zwei Jahre. Man stelle sich vor: Da wartet man jahrelang darauf, dass die EU etwas zusagt oder gar Anzeichen dafür zeigt, dass es die Kandidaturen ernst meint, und dann hat Brüssel plötzlich nur noch Augen für Kiew und scheint die Existenz der Länder auf dem Balkan völlig vergessen zu haben. Es kommt also nicht gerade überraschend, wenn die Bürger dieser Staaten anfangen zu glauben, dass die EU vielleicht einfach keine passende Partnerin für eine langfristige Beziehung ist.
Derzeit haben 55 Prozent der Bürger in Nordmazedonien eine negative Haltung zur EU, während nur 21 Prozent der Serben die EU positiv sehen und eine Mehrheit von ihnen jetzt sogar gegen einen Beitritt zur Union ist. Selbst in Albanien sowie Bosnien und Herzegowina ist das Vertrauen in die europäischen Institutionen gesunken. Es erscheint also sinnvoll, dass die EU nun zu einem großen Gipfel dorthin eilt, besorgt darüber, dass jemand anderes die Loyalität dieser Balkanländer für sich gewinnen könnte. Russland zum Beispiel oder – Gott behüte – gar China.
Serbien ist historisch ein enger Freund Russlands und der serbische Präsident Aleksandar Vučić sagte kürzlich, dass Belgrads Beziehungen zu Albanien und insbesondere zu Nordmazedonien nie besser gewesen seien – obwohl Albanien in den vergangenen Jahrzehnten vom Westen als einer der standhaftesten Verbündeten angesehen wurde, auch militärisch, nachdem Tirana Truppen nach Afghanistan und in den Irak entsendet hatte. Serbien hingegen ist nicht mit den antirussischen Sanktionen sowie der Agenda der EU einverstanden und weigert sich, in seiner Außenpolitik gegenüber Russland in den Gleichschritt mit Brüssel zu gehen. Vučić lehnte es ab, die Schlusserklärung des Gipfels von Tirana zu unterzeichnen, deren erste Klausel sich auf Russlands "eskalierenden Krieg in der Ukraine" bezieht, und bekräftigte erneut seine Missbilligung der Sanktionspolitik der EU.
Es wäre nicht weit hergeholt, sich vorzustellen, dass Brüssel in all dem eine Bedrohung seiner Anti-Russland-Agenda sehen könnte, oder sich Sorgen macht, dass jene Länder des Balkans, die den westlichen Sanktionen gefolgt sind, möglicherweise anfangen könnten, ihre wirtschaftlichen und energiepolitischen Herausforderungen mit der Situation in Serbien zu vergleichen, das immer noch die Vorteile des billigen russischen Gases genießt, welches etwa 85 Prozent seiner Gasimporte ausmacht.
Wie also geht die EU mit diesem potenziellen Pulverfass um? Mit der Subtilität einer Handgranate. Von der Leyen fiel vergangene Woche rhetorisch wie ein Sturzkampfbomber in die Region ein und wies darauf hin, dass die Welt in "Autokratien und Demokratien" gespalten sei und dass sich der Balkan für eine Seite entscheiden müsse. "Wir merken sehr deutlich, dass der Krieg in der Ukraine nicht nur ein grausamer Krieg Russlands gegen die Ukraine ist, sondern dass es auch um die Frage geht, ob Autokratien und das Recht des Stärkeren siegen oder ob sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen werden. Und dieser Kampf ist auch auf dem Westbalkan spürbar", sagte von der Leyen.
Vermutlich zählt von der Leyen die Europäische Union zu den Demokratien. Aber nichts sagt mehr über "Demokratie" aus, als eine nicht gewählte Bürokratin, die in ein fremdes Land reist und mit Forderungen um sich wirft. "Wir sind der engste Partner und deshalb geht es in der Diskussion auch darum, dass man sich entscheiden muss, auf welcher Seite man steht", so von der Leyen.
Kommen die Bürger dieser Länder in dieser "Diskussion" zu Wort? Man könnte meinen, sie hätte zumindest für die Demokratie ein Lippenbekenntnis abgelegt und darauf hingewiesen: "Hey, das ist etwas, das ihr offensichtlich euren Bürgern zur Prüfung vorlegen solltet." Oder: "Hey, vielleicht bleibt ihr im Interesse der eigenen Souveränität lieber bei einer Position der strategischen Blockfreiheit." Stattdessen klang sie wie ein böses Mädchen aus einer Clique vom Pausenhof einer Grundschule, die in der Cafeteria den Balkan beim Mittagessen mit einer verfeindeten Clique erwischt hat.
Die Präsidentin der Europäischen Kommission erinnerte die Länder des Balkans anschließend daran, dass die EU der "engste Partner" der Region sei, weshalb man sich für die EU entscheiden sollte. Laut der Erklärung von Tirana, die vermutlich in Brüssel verfasst wurde – Vučić wies darauf hin, dass er daran nicht beteiligt gewesen wäre, und wahrscheinlich auch andere Staatschefs des Balkans nicht – "bleibt die EU der engste Partner, Hauptinvestor, Handelspartner und Hauptgeber der Region. Das außergewöhnliche Ausmaß und die Reichweite dieser Unterstützung sollten sichtbarer gemacht und von den Partnern in ihrer öffentlichen Debatte und Kommunikation proaktiv reflektiert werden, damit die Bürger die konkreten Vorteile der Partnerschaft mit der EU erkennen können."
Das wird wahrscheinlich sehr gut ankommen, weil die Menschen es wirklich lieben, wenn diejenige Person, die anbietet, die Rechnung zu bezahlen, jeden ständig daran erinnert, dass sie die Rechnung bezahlt – und von allen auch noch verlangt, dass sie verkünden, wie großzügig und was für eine tolle Partie sie sei, dass man ihr absolut treu sein sollte, damit vielleicht eines Tages – wenn man Glück hat und zuverlässig Russland und China verteufelt – es vielleicht doch noch zu einem Ehering reicht. Oder auch nicht.
Übersetzt aus dem Englischen.
Rachel Marsden ist eine Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Webseite findet man unter rachelmarsden.com.
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