Eine Analyse von Alexander Männer
Die antirussischen Sanktionen des Westens und die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines haben in Europa zu einem exorbitanten Anstieg der Gaspreise und folglich zu ernsthaften Wirtschaftsproblemen geführt. Es ist davon auszugehen, dass der Europäischen Union inzwischen mehr als 55 Milliarden Kubikmeter Gas fehlen, die zuvor aus Russland importiert wurden. Deshalb ist die Priorität für Deutschland, Frankreich und die anderen EU-Länder momentan, die Mengen zu ersetzen, die nach der Begrenzung der russischen Gaslieferungen verloren gingen.
Diese Lücke will man vor allem mithilfe des Imports von Flüssiggas (LNG) füllen, das nach Möglichkeit aus den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, den Nahostländern sowie aus Norwegen und Algerien bezogen werden soll. Vor allem die USA könnten die größte Rolle auf dem europäischen LNG-Markt übernehmen.
Es ist jedoch fraglich, ob der umfangreiche Umstieg der EU von Pipelinegas aus Russland auf verflüssigtes Erdgas aus Nordamerika und Asien überhaupt realisiert werden kann. Dagegen spricht einerseits die große Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage im globalen LNG-Sektor, die laut Prognosen auch künftig kaum auszugleichen sein wird. Zum anderen geht es für die EU-Länder um große Lieferverträge, die aufgrund der harten Konkurrenz mit den anderen Akteuren bislang kaum abgeschlossen wurden.
Das globale LNG-Angebot
Diesbezüglich konstatieren Experten schon seit Jahren und wiederholen auch angesichts der Energiekrise in der EU, dass es weltweit keine zusätzlichen LNG-Volumina gibt, die den russischen Anteil am europäischen Gasbedarf vollständig oder zumindest zum größten Teil ersetzen könnten. Die globale Nachfrage nach Flüssiggas übersteigt das Angebot für diesen Energieträger derzeit bei Weitem, sodass große zusätzliche LNG-Kontingente, die theoretisch importiert werden könnten, physisch einfach nicht vorhanden sind.
Das liegt einerseits daran, dass die weltweite LNG-Produktion vorerst an ihre Grenzen gestoßen ist und die Exporteure daher nicht mehr bereitstellen können. So zum Beispiel der Großproduzent und Weltmarktführer Katar, dessen Energieministerium Medien zufolge von einem sehr begrenzten Angebot ausgeht und wiederholt darauf hingewiesen hat, dass kein Land weltweit zusätzliche Exporte in großen Mengen kurzfristig tätigen könnte. Auch nicht das Emirat. Energieminister Saad Scherida al-Kaabi deutete im Rahmen des kürzlichen LNG-Deals mit Deutschland zwar an, es seien in Zukunft mehr als die erbetene Lieferung von jährlich bis zu zwei Millionen Tonnen Flüssigerdgas möglich, nannte jedoch keine konkreten Zahlen.
Die USA, der andere in Betracht kommende Exporteur, haben bei ihrer Schiefergasförderung seit 2016 zwar einen enormen Anstieg hingelegt und konnten ihre Produktion auch im vergangenen Jahr erneut extrem steigern, sie müssten allerdings trotzdem deutlich mehr liefern, um die europäische Nachfrage zu decken. Die Frage ist, ob die US-Produktion noch einmal so zulegen kann. Das Handelsblatt jedenfalls wies Anfang des Jahres darauf hin, dass die Kapazität für die Gasverflüssigung in den Vereinigten Staaten begrenzt sei und im Dezember 2021 in der Nähe der maximalen Auslastung gelegen habe.
Dem entgegenzuhalten ist die aktuelle Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln (EWI), in der eine sehr optimistische Produktionssteigerung in Nordamerika in den kommenden Jahren prognostiziert wird. Das Magazin Der Spiegel schreibt diesbezüglich, dass falls ''zwischen Russland und den EU-Ländern kein Gas gehandelt werden sollte'', die USA laut der Prognose ihren Anteil am gesamten Gesamtimport der EU 2030 auf 39 Prozent steigern könnten. Die Rede ist von mehr als 130 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Dafür müssten US-Amerikaner und Europäer neue Anlagen bauen, um eine Verflüssigungs- und Regasifizierungskapazität von 176 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu erreichen, so die Studie.
Die Umsetzung von Verflüssigungsprojekten in Nordamerika ist eine Voraussetzung für eine Erhöhung des LNG-Imports aus den USA, und dafür soll es schon entsprechende Pläne geben. Diese haben aber offenbar noch keine ausreichende Finanzierung erhalten. So hatte man in dem texanischen Gasunternehmen Tellurian nach Angaben der Agentur Reuters im Oktober verlautet, dass es in den USA ''Verflüssigungsprojekte im Wert von 100 Milliarden Dollar'' gebe, die zwar ''genehmigt sind, aber keine Finanzierung erhalten haben''. Darum sollten Investitionen getätigt werden, ''wenn man die Ressource kontrollieren will". Wie Reuters zudem berichtete, soll Tellurian im September mit Shell und Vitol zwei potenzielle Großkunden verloren haben, die ihre LNG-Geschäfte mit dem Unternehmen aufgegeben hätten. Die Nachricht kam nur wenige Tage, nachdem Tellurian eine Anleihe im Wert von einer Milliarde US-Dollar zur Finanzierung des Baus von Verflüssigungsanlagen aufgegeben hatte, heißt es.
So etwas ist bestimmt noch kein Beinbruch in der Branche, unterstreicht die EWI-Prognose aber auch nicht unbedingt. Zugleich sprechen andere Studien dafür, dass sich das Angebot-Nachfrage-Verhältnis auch künftig kaum ändern wird. Die Analysten von Shell etwa behaupten in der diesjährigen LNG-Marktprognose des Konzerns, dass die weltweite LNG-Nachfrage bis 2040 um etwa 90 Prozent, von heute knapp 400 Millionen Tonnen pro Jahr auf über 700 Millionen Tonnen, zunehmen soll. Bislang seien aber nur Produktionskapazitäten von etwas über 400 Millionen Tonnen LNG weltweit in Betrieb oder in Planung.
Harter Wettbewerb um Lieferverträge
Des Weiteren gibt es da noch die langfristigen Lieferverträge für Flüssiggas, um die ein harter Wettbewerb herrscht. Grund dafür sind die moderaten Preise, die deutlich unter dem Preisniveau für das LNG liegen, das auf dem sogenannten Spotmarkt gehandelt wird.
2021 wurden etwa 87 Prozent der langfristigen Lieferverträge mit asiatischen Ländern abgeschlossen. Auch in diesem Jahr gingen die Lieferungen hauptsächlich an die Länder Asiens, die, wie die Shell-Prognose bestätigt, bereit sind, am meisten zu zahlen und darum auch fast die gesamte LNG-Exportmenge für die kommenden Jahre beanspruchen können. Allen voran China, das mit 79 Millionen Tonnen LNG beziehungsweise 109 Milliarden Kubikmeter Gas den Löwenanteil des weltweiten LNG-Imports des vergangenen Jahres ausmacht. Darüber hinaus haben die Chinesen im vergangenen Monat einen weiteren Coup hingelegt und ein 60-Milliarden-Dollar-Abkommen mit Katar über den Kauf von Flüssiggas abgeschlossen. Laut der Süddeutschen Zeitung wird Katar ab 2026 jährlich und über einen Zeitraum von 27 Jahren vier Millionen Tonnen LNG nach China liefern. Es soll sich dabei um den längsten LNG-Liefervertrag handeln, den China bisher abgeschlossen hat. Es ist auch eine der größten Vereinbarungen des Landes in Bezug auf das Volumen.
Im Gegensatz zu dem Deutschland-Deal liegen die chinesischen Importe in einer anderen Größenordnung, was erneut verdeutlicht, dass der europäische Markt verglichen mit Asien eher ein Hinterhof im globalen Handel mit Flüssiggas ist. Das liegt daran, dass man von der Konjunktur im asiatisch-pazifischen Raum abhängig ist, wo die Preisbildung am stärksten beeinflusst wird. Außerdem ist der asiatische Markt mit mehr als 75 Prozent der globalen LNG-Nachfrage physisch viel größer und zudem lukrativer für die Exporteure, weil da generell mehr bezahlt wird.
Dies hatte sich zuerst mit der Corona-Krise teilweise zugunsten Europas geändert, nachdem insbesondere die anhaltenden Lockdowns und andere Maßnahmen in China zwischendurch dazu geführt hatten, dass auf den Weltmärkten erhebliche LNG-Mengen verfügbar wurden. Danach hatte die Energiekrise die Gaspreise in der EU dermaßen in die Höhe getrieben, dass die Exporteure Europa seitdem ebenfalls als einen wichtigen Markt ansehen.
Jedoch scheint es so, dass Peking seine Corona-Maßnahmen beenden könnte und dass die chinesische Wirtschaft dann wieder auf Hochtouren läuft. Fatih Birol, der Leiter der Internationalen Energieagentur, hat bereits gewarnt, dass die Gaslieferungen im nächsten Jahr nicht sicher sein werden, wenn China seine Corona-Beschränkungen aufhebt und seinen Wettbewerb um das verfügbare Gas verstärkt. ''Wenn sich die chinesische Wirtschaft erholt, wird es für Europa schwierig sein, so viel LNG anzuziehen'', so Birol.
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