Von Wladislaw Sankin
Nur vier Tage ist es her, seit die russischen Streitkräfte das rechte Ufer des Gebiets Cherson verlassen haben. Vier Tage, seit die ersten ukrainische Einheiten ins Zentrum der gleichnamigen Gebietshauptstadt einrückten. Am Montag war es so weit, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in Cherson mit seiner kompletten Entourage seinen, wie er behauptet, Etappen-Sieg auf dem Weg zur vollständigen De-Okkupierung der Ukraine feierte. Medial, wie gewohnt, frech in Szene gesetzt.
In Moskau herrscht hingegen weiter Katerstimmung. Das Rätseln darüber, ob die Räumung des Gebiets militärisch den gegebenen Umständen entsprechend gerechtfertigt war oder nicht, geht weiter und wird mit Meldungen über Friedensgespräche, heimliche Unterredungen und Lockerungen des Sanktionsregimes befeuert. Die russische Regierung kommentiert dieses politisch so weitreichende Ereignis kaum. Eine Deutung ist Politexperten, Duma-Abgeordneten und Journalisten überlassen.
Politischer Nebel in Moskau verstärkt das ungute Gefühl bei denjenigen, die sowieso eine heimliche Abmachung mit den Gegnern über die Rückgabe der neuen russischen Gebiete an die Ukraine oder zumindest das Einfrieren des Konflikts zu für Russland ungünstigen Bedingungen befürchten. Die Vorhersage Wladimir Putins über das Jahrzehnt schwierigster Auseinandersetzungen über die Neuteilung der Welt scheint mit dem Rückzug aus Cherson jedenfalls von neuen Farben erleuchtet zu sein.
Wie auch immer im Endeffekt die politischen und militärischen Folgen des Rückzugs ausfallen, klar ist nun aber eins: Die Hauptleidtragenden des Rückzugs Russlands aus seinem erst im Oktober in die Föderation aufgenommenen Teilgebiets sind Tausende Einwohner Chersons, die sich offen für diese Eingliederung aussprachen oder zumindest mit den neuen Behörden kooperierten.
Mindestens 115.000 Einwohner wurden in den vergangenen Wochen vom rechten Ufer evakuiert. Bis zur letzten Stunde am 11. November verkehrten noch Fähren und Kleinschiffe zwischen den beiden Ufern und brachten Hunderte Chersoner in den von Russland kontrollierten Teil des Gebiets. Ein Boot fuhr noch am 12. November ans rechte Ufer, als das russische Militär nicht mehr vor Ort war, um die letzten Ausreisewilligen zu retten.
Das Wort "retten" ist keine Übertreibung. Denn nun herrscht in der Stadt eine ganz eigenartige Revanche-Stimmung derjeniger, die ihre pro-ukrainischen Ansichten während der neun Monate unter russischer Kontrolle nicht abgelegt haben. Frenetisch werden ukrainische Soldaten von diesen Bürgern empfangen. Deren Zahl auf den Straßen ist jedoch überschaubar. Auf dem weiträumigen Platz vor der Gebietsverwaltung haben sich am ersten Tag wenige Hundert Menschen versammelt, um die Parole "ZSU" (ein Akronym für die ukrainische Armee) und "Slawa Ukraine" zu rufen.
Der Bürgermeister der russischen Verwaltung der Stadt schätzt die Zahl der verbliebenen Einwohner auf circa 50.000 bis 60.000. Im Juli waren es nach der Einschätzung des Vize-Gebietschefs Kirill Stremoussow circa 180.000 – 60 Prozent von knapp 300.000, die Ende des Jahres 2019 gezählt wurden. Einige russische Experten erinnern nun daran, dass das Gebiet schon immer große Anteile einer ukrainischsprachigen Bevölkerung hatte und im gesamten Südosten der Ukraine am wenigsten als pro-russisch galt.
Dennoch wäre es falsch zu denken, dass alle Verbliebenen mit der russischen Verwaltung nicht kooperiert oder alle Russland freundliche Gesinnten ausgereist seien. Hinweise dafür lieferten am Sonntag sogar westliche Mainstreammedien, indem sie Fotos von zwei mit Kabelbindern an Pfählen festgebundenen Männern lieferten. Um die Männer herum standen Menschen mit einem höhnischen Gesichtsausdruck. Im Hintergrund war ein noch intaktes Werbebanner mit der Aufschrift "In Zukunft mit Russland" zu sehen.
In einem anderen Video bewerfen kleine Jungs riesige Werbebanner mit den Porträts der russischen Dichter Afanaisij Fet und Alexander Puschkin mit Dreck. Es ist offensichtlich, dass Kinder mit dieser Tat die Stimmung der Erwachsenen zum Ausdruck bringen.
Dass das Militär nach "Verdächtigen" fahndet, geht aus einem TikTok-Video der ukrainischen Soldaten hervor, das zeigt, wie sie zwei ältere Zivilisten willkürlich behandeln. Ihre Augen waren wie bei einer militärischen Gefangennahme verbunden.
Ein weiteres Video, das in pro-ukrainischen Medien verbreitet wird, ist in einem Dorf aufgenommen. Im Video erzählt die Einwohnerin, im ländlichen Regionaldialekt sprechend, dass in ihrem Dorf viele Menschen Russland unterstützten. Diejenigen, die am Referendum für den Beitritt zu Russland teilgenommen hätten, seien von der ukrainischen Staatsanwaltschaft bereits verhaftet worden. Laut dem ehemaligen ukrainischen Politiker Oleg Tsarjow sind im Gebiet Cherson nach nur zwei oder drei Tagen, in denen Razzias stattfanden, bereits 102 vermeintliche "Staatsverräter" verhaftet worden. In der Regel handele es sich um lokale Ratsabgeordnete. Tsarjow erklärte:
"Dies ist die offizielle Zahl, in Wirklichkeit ist es wahrscheinlich viel schlimmer. Im besten Fall drohen diesen Personen ein Prozess und eine lange Haftstrafe wegen Hochverrats. Ich betone: bestenfalls."
Aber zurück zur Dorfbewohnerin. Ihr zufolge müsste die Strafe härter sein, vor allem für diejenigen, die den russischen Soldaten alltägliche Hilfe leisteten, darunter auch "Burjaten und Dagestaner", betont sie. Sie müssten auch bestraft werden. Sie und ihre danebenstehende Nachbarin sind empört.
"Anhänger der russischen Welt gibt es immer noch in unserem Dorf. Niemand tut ihnen etwas. Ich halte das nicht aus und werde sie selbst schlagen. Unser Staat zwingt mich mit seiner Untätigkeit zum Verbrechen. Ich kann mit diesen Menschen nicht in einem Dorf leben".
Und weinend:
"Und diese Schlampe lebt hier und niemand tut ihr was."
Auffallend ist, dass die einfache Bäuerin in ihrem freiwilligen Denunziantentum einen Begriff aus der Diffamierungskiste des ukrainischen Politvokabulars verwendet: "Russische Welt". Dass die Frau, die russische Soldaten "wie Neffen" behandelte, eine Anhängerin der russischen Welt und damit eine Feindin sei soll, müsste sie offenbar aus dem ukrainischen Fernsehen erfahren haben.
Die russische Journalistin und Menschenrechtlerin Marina Achmedowa merkt in ihrem Kommentar dazu an, dass die einfachen Ukrainer vom ukrainischen Staat zum Denunziantentum angestachelt werden. Zur moralischen Wertung des Falles fand sie deutliche Worte:
"Wenn Sie sich fragen, wie Spitzel und Hilfspolizisten aussehen, stellen Sie sich das hübsche Gesicht dieser Dorfbewohnerin vor. Sie denunziert ihre Nachbarn und wird friedlich leben, wenn sie in deren Hinterhof erledigt werden. Sie würde sogar zum Galgen gehen, um zuzusehen. Das ist das kollektive Gesicht der 'Ukraine'. Und kein Wunder, solche Appelle werden in der Ukraine von ganz oben verkündet, die einfachen Leute nehmen sie auf, wecken in sich die schlummernden primitiven Rustikalitäten Neid, alten Groll, Rachsucht und Gier nach dem Tod anderer Menschen."
Der Expertin zufolge seien Filtrationsmaßnahmen und Denunzierungsaktivitäten der Ukraine in der Region ein Beweis dafür, dass Cherson zu Russland und nicht zur Ukraine gehöre. Russland habe es nicht nötig, die Menschen für ihre pro-ukrainischen Ansichten zu verfolgen, schrieb sie in einem Kommentar über spontane pro-ukrainische Kundgebungen im Zentrum Chersons.
"Russlands Militär hat die Leute nicht gebeten, ihre Nachbarn zu verpfeifen. Und ihre ukrainischen Flaggen sind unversehrt geblieben. Wenn, wie uns die Ukraine versichert, die Bewohner ihre Flaggen für diesen Tag aufbewahrt haben, dann hat unser Militär auch keine Hausdurchsuchungen durchgeführt."
Das, was derzeit im Gebiet Cherson geschieht, erinnert an den Bürgerkrieg, der in dieser Region vor mehr als hundert Jahren getobt hat. Dieser folgte der Russischen Revolution 1917 und dauerte mehrere Jahre an, als viele Banden verschiedener "Hetmane" sowie die Weiß- und Rotgardisten einander bekämpften und die Gebiete oft überfielen oder sie verlassen mussten. Um in diesem Kriegschaos überleben zu können, musste die Zivilbevölkerung sich stets mit den Kriegsparteien und jeweiligen Besatzungsmächten arrangieren. Auch am Ende des aktuellen Krieges, der zweifellos auch ein Bürgerkonflikt ist, wird diejenige Partei die Oberhand gewinnen, die in der Lage sein wird, den lang ersehnten sozialen Frieden wiederherzustellen.
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