Eine Analyse von Pierre Lévy
Ist Frankreich auf dem Weg zu einem sozialen Sturm? Eine große Volksmobilisierung lässt sich weder verordnen noch vorhersagen. Aber offensichtlich geht ein solches Gespenst im Macron-Lager um, ebenso wie bei vielen Staats- und Regierungschefs in anderen EU-Ländern.
Die sinkende Kaufkraft quält die Arbeiter. Die Energiepreise stehen im Mittelpunkt der Sorgen. Der Begriff "Einschränkung", der untrennbar mit der Ideologie des Umweltschutzes oder gar des entschleunigten Wachstums verbunden ist, erlebt einen plötzlichen Aufschwung. Aber was ist das anderes als eine postmoderne Version der Austerität? Das hat Agnès Pannier-Runacher, die französische Ministerin für den Energiewandel, unfreiwillig zugegeben, als sie erklärte: "Man wird niemals von Franzosen, die sich in einer Situation erlittener Einschränkung befinden, verlangen, dass sie sparen." Ein wunderbarer Neologismus: Man sage nicht mehr "arm", sondern "in einer Situation der erlittenen Einschränkung befindlich" …
Das Glaubensbekenntnis der Regierungschefin Élisabeth Borne gewinnt nun an Bedeutung: "Einschränkung ist eine neue Art zu denken und zu handeln", sagte die Premierministerin. Das ist also klar. Es gibt eine Kontinuität zwischen der Weigerung, die Beamtengehälter angemessen zu erhöhen – eine Entscheidung, die von der Regierung abhängt (unter EU-Haushaltszwängen) –, und den endlosen Ermahnungen, die Heizung runterzufahren oder die Aufzüge zugunsten der Treppen stehenzulassen (ein Vorschlag, der in mehreren Sozialwohnungssiedlungen gemacht wurde) …
La Poste hat ihrerseits gerade die "Entwicklung der Briefangebote" veröffentlicht: Ab Januar 2023 wird eine Zustellung von D+3 zur Norm; und für dringende Briefe wird es D+2 sein, zu Goldpreisen. Früher war der älteste öffentliche Dienst des Landes stolz darauf, einen Brief an einem einzigen Tag von einem Dorf in der Nähe von Dünkirchen bis in einen Vorort von Perpignan zu befördern. Doch jetzt wird alles rückgängig gemacht: Es gehe darum, den Planeten zu retten, hieß es in der Begleitrede zur Ankündigung …
Ungebremste Inflation, zerfetzte öffentliche Dienste und generell ein historisch umgekehrter Fortschritt – alles gut! Das scheint zumindest Josep Borrell zu denken, und zwar ohne jede Ironie. Als er am 13. Oktober vor dem Europäischen Kollegium in Brügge sprach, sagte der Chef der EU-Außenpolitik Folgendes:
"Europa ist ein Garten. Alles funktioniert. Es ist die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt, die die Menschheit je geschaffen hat …"
Der ehemalige spanische (sozialistische) Außenminister hat sich nicht lumpen lassen. Dieser wunderbare Garten Eden, in dem sich die Europäer gemütlich zurücklehnen, sei bedroht, denn "der Großteil der übrigen Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten eindringen". Angesichts der Barbaren, die in unser europäisches Paradies einzudringen drohen, schließt Borrell den Bau von Mauern aus und schlägt eine vielversprechendere Alternative vor:
"Die Gärtner müssen in den Dschungel gehen. Die Europäer müssen sich viel mehr mit dem Rest der Welt beschäftigen. Andernfalls wird der Rest der Welt in uns eindringen, auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Mitteln."
Dieses "Engagement", das der Hohe Vertreter empfiehlt, ist offensichtlich diplomatischer, aber auch militärischer Natur. Davon zeugt unter anderem die sogenannte Europäische Friedensfazilität (!), ein Fonds, mit dem die bewaffnete Unterstützung befreundeter Regime gegen die Wilden des Dschungels finanziert wird. Dank dieses Fonds wird vor allem Kiew mit immer massiveren und ausgeklügelteren Waffen ausgestattet (eine sechste Tranche von 500 Millionen Euro hat die Gesamtsumme auf 3,1 Milliarden Euro erhöht). Borrell räumt Zweifel an der Art und Weise aus, wie die EU-Staats- und Regierungschefs den Dschungel gestalten wollen:
"Nach dem Krieg (in der Ukraine) wird es eine Zeit der Instabilität geben, und wir müssen eine neue Sicherheitsordnung aufbauen. Wie wir Russland – ein Post-Putin-Russland – in diese Weltordnung integrieren, ist etwas, das viel Arbeit erfordern wird."
Ein "Post-Putin-Russland"? Brüssel nimmt sich also das Recht heraus, über die Legitimität des russischen Präsidenten zu entscheiden und sogar dazu beizutragen, den derzeitigen Amtsinhaber aus dem Weg zu räumen. Dieser hat die europäischen Staats- und Regierungschefs gerade daran erinnert, dass Moskau – insbesondere über Nord Stream 2, das von Sabotageakten verschont geblieben ist – so viel Gas liefern kann, wie es will, wenn es nur die Hähne auf seiner Seite aufdreht. Dies würde den Energieschock stark bremsen und die Aussicht auf einen wirtschaftlichen und sozialen Tsunami abwenden.
Allerdings würde dies auf eine Aufhebung der EU-Sanktionen hinauslaufen. Für Brüssel kommt das nicht in Frage.
Es lebe also die Einschränkung!
Pierre Lévy ist Chefredakteur der französischen Monatszeitschrift Ruptures. Sein Themenschwerpunkt ist die Europäische Union.
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