Noch am Wochenende hatte es den ersten Durchbruch der ukrainischen Truppen im Norden des rechtsufrigen Teils des Gebiets Cherson gegeben, der noch während des Referendums über den Beitritt zu Russland zu 95 Prozent von den russischen Truppen kontrolliert worden war. Der erste Vorstoß gelang den ukrainischen Streitkräften bis zu dem Ort Dudtschany an der Linie entlang des Flusses Dnjepr.
Das bestätigte auch das russische Verteidigungsministerium, das am Montag von einem Durchbruch "zahlenmäßig überlegenen" Panzereinheiten an diesem Frontabschnitt berichtet hatte. Am Dienstag meldete die russische Seite auch den Verlust des Ortes Dawydow Brod an der Trennlinie im Westen dieser Zone. Neben Dawydow Brod verließen russische Einheiten die Orte Bolschaja und Malaja Alexandrowka, Staroselje, Trifonowka, Nowaja Kamenka, Olgino und Archangelskoje.
Damit habe das russische Militär eine drohende Einkreisung vermieden, argumentierten mehrere Militärbeobachter. Derzeit würde eine neue Verteidigungslinie aufgestellt. Insgesamt gelang den ukrainischen Truppen ein Vorstoß von circa 50 bis 60 Kilometern Tiefe ins russische Hinterland. Gleichzeitig haben die Ukrainer den Beschuss der strategisch wichtigen Alexander-Brücke in Cherson und weiterer Orte in dieser Region mit US-Präzisionsartillerie verstärkt.
Auf in den sozialen Netzwerken geposteten Videos trampeln die ukrainischen Soldaten in den von ihnen zurückeroberten Dörfern auf der russischen Fahne herum. Ihre Aktionen werden von rassistischen und nazistischen Parolen begleitet.
Diese Nachrichten haben unter den zahlreichen russischen Militärbloggern und Kriegskorrespondenten immer wiederkehrende Debatte über mögliche Planungsfehler der Militärführung aufs Neue befeuert. Viele Beobachter waren sich einig: Die Gründe für diese militärische Niederlage seien die gleichen wie nur wenige Wochen zuvor im Gebiet Charkow und erst vor Kurzem bei Krasny Liman.
Vor allem fehle es an Personal und der damit verbundenen Kontrolldichte in der Region. Die ukrainischen Truppen hätten bei ihrer August-Offensive und weiteren kleineren Vorstoßversuchen die Stellungen der russischen Armee auf mögliche Schwachstellen an der Verteidigungslinie getestet. Auch die in Echtzeit von der NATO übermittelte Aufklärungsdaten verschafften der Ukraine einen großen Vorteil. Den russischen Truppen fehle es hingegen an Koordination und Munition, sie seien nach vielen Monaten ohne Rotation aufgerieben. Der Militärkorrespondent Alexander Koz:
"Der Feind hingegen setzte ausgebildete Reserven ein, die sowohl personell als auch nachrichtendienstlich im Vorteil waren. Kiew nutzte die Zeit des Rückzugs und der Defensive, um neue kampfbereite Formationen aufzustellen."
Auch die von den NATO-Ausbildern erlernten und von technisch modernen Waffen gestützten Kampftaktiken der Ukrainer sowie ihre Kriegslist hätten sich als erfolgreich erwiesen. Ein weiterer russischer Reporter mit Verbindungen zu den sich zurückziehenden Einheiten berichtete:
"Die Männer vor Ort berichten massenhaft, dass unsere taktischen Abzeichen, d. h. 'Z' und 'V', auf der Ausrüstung des Feindes angebracht wurden, was in den ersten Stunden des Kampfes, als die Front zusammenbrach, für Verwirrung sorgte. Wenn dies zutrifft, bedeutet es, dass der Feind über ein amerikanisches netzwerkgestütztes Gefechtsführungssystem verfügt, bei dem alle Einheiten auf dem Schlachtfeld miteinander vernetzt und auf Computern markiert sind, selbst auf Kompanieebene, ganz zu schweigen von der Ebene der Bataillone und Regimenter. So kann selbst ein Kompaniefeldwebel in einem Humvee, BMP oder T-64 auf dem Bildschirm sehen, wo sich seine eigenen Einheiten befinden und wo die anderen, und es ist ihm egal, welche Markierungen auf den Panzern zu sehen sind. Wenn das so ist, ist das sehr schlecht, denn es ist eine qualitativ neue Ebene der Truppenkontrolle."
Wie geht es nun weiter mit der ukrainischen Offensive? Darüber, ob die Ukrainer genug Kräfte für deren Fortsetzung haben, gibt es keine einhellige Meinung. Zwar ist die Gebietshauptstadt Cherson durch russische Eliteeinheiten vergleichsweise gut geschützt. Aber sie liegt weit im Süden, und das neue Geländegewinn würde dem ukrainischen Militär nun das Übersetzen aufs andere Dnjepr-Ufer mit Kampfbooten erleichtern, während für die Russen immer weniger Versorgungswege zum rechtsufrigen Teil des Gebiets bleiben. Die russische Seite hofft auf jeden Fall, dass die ersten neu mobilisierten Einheiten bald in den Frontgebieten eintreffen und die Wende zum Besseren bewirken können.
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