Eine Analyse von Anton Gentzen
Noch gibt es keine Klarheit über das Ausmaß der Repressionen und des Terrors, das die Zivilbevölkerung in den kürzlich durch die Ukraine zurückeroberten Städten und Siedlungen für tatsächliche oder vermeintliche "Kollaboration" mit russischen Behörden trifft. Die wenigen Einblicke, die derzeit möglich sind, sind besorgniserregend.
Fragmentarische Berichte und Einzelmeldungen aus der Region lassen befürchten, dass dort zur Zeit Kriegsverbrechen und ungesetzliche Strafaktionen systematisch und massenhaft an der Tagesordnung sind. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij setzte seinerseits ein Zeichen, indem er während seiner Tagesvisite nach Isjum jedes Gespräch und jedes Foto mit den Einwohnern verweigerte. Mit Hinweis auf die noch ausstehende "Filtration".
"Wozu hast du den Päderasten gedient?"
Die offiziell verkündete Politik der "Filtration" kann einen selbst dafür treffen, dass man die zurückliegenden Monate seiner Arbeit nachgegangen ist, und sei es ganz unpolitisch und ohne jede militärische Relevanz. Ein in der zurückliegenden Woche in sozialen Netzwerken veröffentlichtes Video zeigt ein "Verhör" eines älteren Mannes in Balakleja, der ersten der zurückeroberten Städte. Mitten auf der Straße von bewaffneten und uniformierten Ukrainern angehalten, ist er gezwungen, dem Filmenden Rede und Antwort zu geben. Das "Verhör" läuft auf Ukrainisch ab:
Filmender: "Wie hat es sich gelebt unter den Päderasten?"
Einwohner: "Na was denken Sie? Nicht besonders fröhlich."
F.: "Welche Position haben Sie bekleidet?"
E.: "Vorsitzender des Fußball- und Sportklubs 'Wympel'."
F.: "Beamter für Sport- und Jugendfragen?"
E.: "Nein. Sportanlage 'Wympel'. Da hinten."
F.: "Wie hoch war das Gehalt?"
E.: "Kein (Gehalt)."
F.: "Und wozu hast du dann den Päderasten gedient?"
E.: "Ich habe denen nicht gedient. Nein, Jungs, ich habe unserer Balakleja gedient ..."
F.: "Schnapp ihn dir, zum Teufel!"
Die Kamera schwenkt auf einen Jeep und einen weiteren Uniformierten.
Man kann nur hoffen, dass dem Mann nach seiner Verhaftung nicht Schlimmeres widerfahren ist.
Ein anderes Video zeigt einen Mann, der Spuren von Prügel im Gesicht trägt. Sein Name ist bekannt: Sergei Krassowski, Vorsitzender des Bundes der Veteranen der "Antiterroroperation" in der Grenzstadt Woltschansk. Krassowski wechselte nach Beginn der russischen militärischen Intervention die Seiten und unterstützte Russland. "Antiterroroperation" ist die amtliche ukrainische Bezeichnung für den Krieg, den die Ukraine seit April 2014 im und gegen den Donbass führt.
Bericht eines proukrainischen Senders
Russische Journalisten haben keinen Zugang zur Region mehr. Ukrainische Journalisten, so weit sie nicht selbst von Hass und Vorurteilen gegen Russen und russischsprachige Ukrainer getrieben sind, unterliegen zahlreichen gesetzlichen und ungesetzlichen Zwängen und können nicht frei und offen berichten. Ausländische Journalisten sind da selten besser.
Immerhin hat der Sender RTVI dem aus westlicher Sicht unangenehmen Thema am Samstag eine längere Reportage mit dem Titel "Filtration in der Region Charkow. Was passiert mit russlandtreuen Menschen nach der Gegenoffensive der Ukraine?" gewidmet. Für einen Sender, der nie einen Hehl aus seinen Sympathien für den Kiewer Maidan und die nationalistische Ukraine gemacht hat, berichtet RTVI erstaunlich offen:
"In den von der russischen Armee verlassenen Gebieten der Oblast Charkow begann die Filterung der Bevölkerung. So wurden beispielsweise Lehrer, die auch nach dem Einmarsch der russischen Truppen weiter unterrichteten, festgenommen. Falls Russen darunter sind, haben die ukrainischen Behörden versprochen, sie wegen Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges vor Gericht zu stellen. Die ukrainischen Bürger hingegen werden wegen Kollaboration angeklagt."
Nach Informationen von RTVI führen das Staatliche Ermittlungsbüro der Ukraine (SBU) und der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) in der Region Charkow eine Filtrierung (Filtration) durch. Offiziellen Angaben zufolge ist das Ziel, alle "Kollaborateure", also diejenigen Zivilisten, die in der Zwischenzeit mit russischen militärischen oder zivilen Behörden zusammengearbeitet haben, der Strafverfolgung zuzuführen.
Laut Berichten des Ermittlungsbüros wurden beispielsweise drei Frauen in der Stadt Isjum inhaftiert: Zwei von ihnen arbeiteten in der Steuerbehörde, während die dritte sich der prorussischen Verwaltung gegenüber bereit erklärt hatte, in der Volksmiliz zu dienen. Im Dorf Weliki Burluk wurde ein ehemaliger örtlicher Ordnungshüter festgenommen, während in Kupjansk der Leiter der Stadtpolizei von Balakleja inhaftiert wurde. Alle genannten Personen wurden wegen Hochverrats angeklagt, worauf in der Ukraine eine Haftstrafe zwischen acht und 15 Jahren steht.
Auch sollen zahlreiche Lehrer festgenommen worden sein, die etwa eine Woche lang nach russischen Lehrplänen unterrichtet hatten. Die ukrainische Vizeregierungschefin Irina Wereschtschuk hat dem Lehrpersonal der "befreiten Gebiete" bereits mehrjährige Haftstrafen in Aussicht gestellt.
"Da geschieht etwas unbeschreiblich Böses"
Unmittelbar nach dem Abzug der russischen Armee wurden in den sozialen Netzwerken mehr als zehn anonyme Telegram-Kanäle eingerichtet, in denen persönliche Daten angeblicher "Kollaborateure" in der Region Charkow veröffentlicht werden. Schon nach kurzer Zeit waren darin Daten von mehreren hundert Personen gelistet. Die Betreiber der Kanäle fordern dazu auf, die gelisteten Personen zu inhaftieren, zu foltern und zu töten.
Der ukrainische prorussische Politiker und ehemalige Abgeordnete der Werchownaja Rada Oleg Zarjow behauptet, dass sich in der Region Charkow jetzt das wiederholt, was bereits in den Regionen Kiew, Sumy und Tschernigow nach dem russischen Teilabzug geschehen sei, wo es viele prorussische Bürger gab, die von den ukrainischen Nationalisten ermordet wurden:
"Ich erhalte Berichte, dass es in der Region Charkow Tausende von Häftlingen gibt, von denen viele auf der Stelle erschossen werden. Sie malen den Buchstaben Z auf die Häuser unserer Leute, damit sie nicht vergessen, sie anschließend zu töten. Ich habe einen Bekannten kontaktiert. Er sitzt zu Hause und fragt sich, wann sie ihn abholen werden. Er ist sicher, dass sie kommen werden. Er sagte mir, dass zwei seiner Freunde bereits erschossen wurden. Direkt vor seinem Haus."
Schlimmer als die Repressionen der regulären Strafverfolgungsbehörden dürften die offiziell angeordneten oder zumindest geduldeten Repressionen durch das ukrainische Militär sein. Die reguläre Armee soll durch das Oberkommando angewiesen worden sein, die Außenbezirke der Städte zu besetzen, während die 227., die 128. und die 22. Einheit der Territorialverteidigung des Gebiets Charkow in den zurückeroberten Städten aktiv sind und auch jeweils die Weisung haben, "Filtrationsmaßnahmen" durchzuführen.
Das Perfide daran: Exakt diese Verbände hatten bei den Zusammenstößen mit der russischen Armee in der Nähe von Charkow die schwersten Verluste erlitten, da sie sowohl bei der Verteidigung der Stadt als auch bei der sogenannten Gegenoffensive als Stoßtruppen ganz vorn eingesetzt wurden. Sie haben nun eine strafende Funktion erhalten, und es steht zu befürchten, dass sie davon exzessiven Gebrauch machen werden.
Einigen Berichten zufolge wird bis Ende September ein Bataillon der 103. Territorialverteidigungsbrigade aus Lwow zur Verstärkung eintreffen, um die Filterung zu beschleunigen.
Neben ehemaligen Beamten und Lehrern, die offen mit Russland sympathisieren, werden auch einfache Zivilisten verhaftet: In Kupjansk wurden zwei Autowäscher ergriffen, die unter Verdacht stehen, an der Wartung von Fahrzeugen der russischen Streitkräfte mitgewirkt zu haben.
Einheimische werden sowohl aufgrund schriftlicher und mündlicher Denunziationen anderer Einwohner als auch aufgrund von Hinweisen des SBU festgenommen. Vermutlich werden die Festgenommenen, deren "Schuld" nicht vor Ort festgestellt werden kann, nach Charkow in die Räumlichkeiten der ukrainischen Polizei in der Wesnin-Straße gebracht. Das Schicksal dieser Menschen bleibt bis auf Weiteres unbekannt.
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