Tausende hilfsbedürftiger Menschen in England leiden unter unzureichender Pflege, da ein gravierender Personalmangel in ehemals gut geführten Pflegeheimen nun offenbar dazu führt, dass die Betreiber Vorschriften brechen und die Bewohner damit zum Teil in Gefahr bringen, wie der Guardian berichtet.
Eine Welle von Inspektionen brachte demnach gravierende Missstände zutage: Menschen würden 24 Stunden am Tag in ihren Zimmern gelassen, dürften über eine Woche lang nicht duschen. Es soll zu körperlichen Angriffen von Mitbewohnern untereinander kommen, einige Senioren seien in ihrem eigenen Urin liegengelassen worden.
Einer Analyse des Guardian zeigte, dass in drei Vierteln aller Pflegeheime in England, deren Bewertung durch die Aufsichtsbehörde Care Quality Commission (CQC) von "gut" vor COVID-19 auf "unzureichend" in diesem Sommer gesenkt wurde, Personalmangel als Hauptproblem erkannt wurde.
Weitere zehn Prozent der Heime, deren Bewertung sich verschlechtert hatte, verfügten zwar über genügend Personal, sollen es aber versäumt haben, qualifiziertes Personal zu rekrutieren, indem sie entweder keine ordnungsgemäßen Referenzen einholten, keine Strafregisterüberprüfungen durchführten oder das Personal nicht ausreichend schulten.
"Personalausstattung ist eine Katastrophe"
Nach Angaben der gemeinnützigen Organisation Skills for Care ist der Personalmangel im letzten Jahr um 52 Prozent auf 165.000 freie Stellen gestiegen. Fast jede zehnte Stelle in der Sozialpflege in England ist inzwischen unbesetzt. Die Pflegekräfte beklagten gegenüber Inspektoren unter anderem: "Die Personalausstattung ist eine Katastrophe" und "Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung und der fehlenden Unterstützung will das Personal einfach nicht mehr arbeiten".
Der Durchschnittslohn in privaten Pflegeheimen in England beträgt 9,01 Pfund (rund 10,70 Euro), so die letzte verfügbare Analyse für 2020/21. Zum Vergleich: Angestellte bei Starbucks verdienen in England mehr als zehn Pfund pro Stunde, und Amazon-Lagerarbeiter erhalten einen Grundlohn von zehn bis zwölf Pfund.
Der Guardian listet einige der festgestellten Vorfälle in Pflegeheimen auf:
- Ein Bewohner des Pflegeheims Cedar Lodge in Bury St Edmunds, in dem zeitweise 23 Personen unbeaufsichtigt waren, griff eine andere Person körperlich und verbal an. Eine weitere Person wurde vermisst und erst gefunden, nachdem ein Bürger sie zu einer Polizeistation begleitet hatte.
- Im Pflegeheim Osbourne Court in Hertfordshire hatte das Personal so wenig Zeit, dass es einen Bewohner mit Feuchttüchern reinigte und ihn nur einmal pro Woche duschte und ihm die Haare wusch.
- Im Pflegeheim Hollies in Westcliff-on-Sea wurden die Bewohner über Nacht in verschmutzten Inkontinenzeinlagen zurückgelassen.
Pfleger fliehen aus dem Beruf
Vanessa Meggs, die Leiterin des Hollies, wies gegenüber dem Guardian entschieden zurück, dass Personalmangel eine angemessene Pflege verhindere. Sie erklärte, dass vielmehr Bewohner, die an Lernschwierigkeiten und Schizophrenie litten, es nicht zuließen, dass die Inkontinenzeinlagen nachts gewechselt werden.
Four Seasons Health Care, der Betreiber von Osbourne Court, sagte gegenüber der Zeitung:
"Nach der Pandemie hatte der Sektor landesweit Schwierigkeiten, Personal zu finden, und wir investieren weiterhin in die Einstellung und Förderung von Talenten in unseren Heimen. Seit der Inspektion im März haben wir unsere Personalverwaltungssysteme überprüft und einen erfahrenen leitenden Angestellten eingesetzt, der das Heim beaufsichtigt und eng mit dem CQC und der örtlichen Behörde zusammenarbeitet, um zu zeigen, dass die Mitarbeiter geschult, unterstützt und geführt werden."
Und er ergänzte:
"Wir halten stets eine sichere Personalausstattung aufrecht und stellen auch weiterhin neue Teammitglieder für das Heim ein. Die Pflege und Betreuung unserer Bewohner und Mitarbeiter hat für uns weiterhin oberste Priorität."
Jamie Warnock, der registrierte Leiter von Cedar Lodge, lehnte eine Stellungnahme gegenüber dem Guardian ab. Laut Berichten von Pflegedienstleitern verlassen immer mehr Beschäftigte den Beruf, um weniger stressige und besser bezahlte Jobs in Supermärkten, in der Gastronomie, im Friseurgewerbe und in Fabriken anzunehmen. Niedrige Löhne, die sich durch die hohe Inflation noch verschlimmern, und Burnout gehören zu den am häufigsten genannten Gründen für die Jobwechsel.
Letzte Woche wurde berichtet, dass der britische Gesundheitsminister Steve Barclay versuchen wolle, ausländische Arbeitskräfte in Pflegeheimen anzuwerben. Die Analyse von Dutzenden von Inspektionsberichten zeigt zudem, dass Aktivitäten abgesagt werden, Bewohner stundenlang in ihren Zimmern bleiben, kein Wasser bekommen und bis zu 30 Minuten warten müssen, um auf die Toilette gehen zu können. In einem Heim lehnte das Personal die Bitte einer Bewohnerin ab, ihr aus dem Stuhl zu helfen, weil es zu beschäftigt war, so der Guardian weiter. "Wir haben keine Zeit für die Bewohner", so eine Pflegekraft.
In einem Heim führte der Personalmangel dazu, dass einem Bewohner erst um 15.00 Uhr aus dem Bett geholfen wurde und mehreren anderen erst nach 12.00 Uhr Mittag, während in einem anderen Heim die Nachtschicht um 4.45 Uhr begann, die Bewohner zu wecken, "um dem Tagespersonal zu helfen".
In einem Heim mit fünf Mitarbeitern, die sich um 25 Personen kümmern, sagte einer der Mitarbeiter gegenüber der CQC:
"Man hat keine Zeit, eine Person vor der anderen fertig zu betreuen, und die Buzzer gehen an. Man hetzt sie, das ist gefährlich, und es ist überhaupt nicht fair."
Die Familien der betroffenen Senioren erklärten, der Personalmangel habe einen "Krisenpunkt" erreicht. Helen Wildbore, Direktorin der gemeinnützigen Organisation Relatives and Residents Association sagte:
"Ältere Menschen zahlen einen hohen Preis für diese Versäumnisse, denn die schlechte Pflege raubt ihnen ihre Würde, bricht ihren Willen und sorgt dafür, dass sie sich in ihrem eigenen Zuhause unsicher fühlen."
Und sie ergänzte:
"Ältere Menschen brauchen viel mehr als leere Slogans des nächsten Premierministers über die 'Verbesserung der sozialen Betreuung'."
Die im letzten Jahr angekündigten Reformen im Bereich der Sozialfürsorge, die sich auf die Deckelung der Kosten für die Dienstleistungsnutzer konzentrierten, wurden kritisiert, weil sie den Personalmangel nicht behoben und die Gehälter nicht erhöht haben. Im Juli gaben 88 Prozent der befragten NHS-Führungskräfte im britischen Gesundheitssystem NHS an, dass der Mangel an angemessenen Kapazitäten in der Sozialfürsorge einen erheblichen oder sehr erheblichen Einfluss auf den Druck in den Notaufnahmen habe.
Eine von der National Care Association (NCA) im Auftrag des Guardian durchgeführte Umfrage unter 45 privaten Pflegeheimen, die Personal entlassen haben, ergab, dass mehr als die Hälfte der Heime die Zeit, die das Personal für Gespräche mit den Bewohnern aufwendet, reduzieren und die Unterhaltungsangebote und Ausflüge außerhalb des Heims einschränken musste. Trotz der steigenden Nachfrage aufgrund der alternden Bevölkerung gaben mehrere Heimleiter an, dass mehr als ein Viertel ihrer Betten nicht genutzt werde, weil das Personal fehle, um mehr Senioren zu betreuen.
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