Eine Analyse von Peter Reinert
Russland rief am 11. August wegen andauernder Raketenbeschüsse des Kernkraftwerks Saporoschje den UN-Sicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung mit der Bitte um Teilnahme des Leiters der UN-Atomenergiebehörde Rafael Grossi.
Dort blieb die Ukraine mit ihrer Darstellung der angeblichen militärischen Angriffe Russlands auf das AKW alleine. Das betonte der ständige Vertreter Russlands im UN-Sicherheitsrat, Wassili Nebensja, in einer Erwiderung auf den Vertreter der Ukraine. Wörtlich: "Der Vertreter des Kiewer Regimes war der einzige, der heute behauptete, Russland bombardiere das AKW Saporoschje, eine Anlage, die unter russischer Kontrolle steht, und die Stadt Energodar, in der das Personal des AKW untergebracht ist."
Laut Nebensja versuchten die Vertreter Frankreichs, Englands und der USA, die Täterschaft der Ukraine mit rhetorischen Manövern auszublenden, obwohl alle Fakten dafür sprechen. Das ausweichende Verhalten der westlichen Diplomaten stand im Einklang mit der Argumentationslinie des US-Außenministers Antony Blinken in seiner Rede am 1. August vor der 10. Kontrollkonferenz des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) in New York.
Zu diesem Zeitpunkt hatte das ukrainische Militär bereits Angriffe mit Sprengstoffdrohnen auf das AKW durchgeführt. Sie setzten ein Verwaltungsgebäude in Brand. Noch kein gefährlicher Schaden, doch einen Monat später wurden Drohnen, Granaten und Raketen zur alltäglichen, unberechenbaren Gefahr in Saporoschje.
Russische Militärbasis im AKW bisher nicht gefunden
Der knappe Abschnitt in der Rede des US-Außenministers Antony Blinken vor der atomaren Sicherheitskonferenz umgeht die Frage nach den Tätern der Attacken. Er konstruierte stattdessen ein Szenarium, das davon ablenken soll. Wäre er von der Urheberschaft Russlands überzeugt gewesen, hätte er diese ersten Angriffe in seiner Rede beschrieben und zutiefst verurteilt. Das tat er nicht.
Zitat aus seiner Rede: "Vor Kurzem haben wir die Aggression Russlands mit der Beschlagnahme des ukrainischen Kernkraftwerks Saporoschje, des größten Kraftwerks dieser Art in ganz Europa, gesehen. Russland nutzt die Anlage jetzt als Militärbasis, um auf die Ukrainer zu schießen, im Wissen, dass sie nicht zurückschießen können und werden, weil sie versehentlich einen Atomreaktor treffen könnten – einen Reaktor oder hochradioaktiven Abfall im Lager. Das bringt die Vorstellung, einen menschlichen Schutzschild zu haben, auf eine ganz andere und schreckliche Ebene."
Man ist angesichts einer so leicht widerlegbaren Lüge fassungslos. Sie wurde dennoch von zahlreichen Pressemedien aufgenommen. Die USA beobachten über Satelliten alle militärischen Vorgänge in der Ukraine. Sie könnten ihre Behauptung problemlos mit Fotos beweisen, doch die gibt es nicht. Eine Militärbasis lässt sich nicht so einfach auf dem Gelände eines Atomkraftwerks verstecken, jeder Quadratmeter ist funktional eingeteilt. Das Kernkraftwerk liegt direkt am linken Ufer des Flusses Dnjepr, da ist kein Terrain. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein gut einsehbares, weites Getreidefeld.
Internationale Journalisten besuchten das AKW
Das Gelände wurde und wird von internationalen Journalisten besucht und fotografiert – die russischen Soldaten der Bewachergruppe lassen sie gerne zur Besichtigung passieren. Die große Anzahl an Soldaten, Versorgungszelten, Waffen, gepanzerten Fahrzeugen und sonstigen Kriegsgeräten einer Militärbasis wäre den Journalisten nicht entgangen.
Das technische Personal der ukrainischen Firma Energoatom, das das AKW unter dem inzwischen täglichen Beschuss und trotz beschädigter Sicherheitsanlagen immer wieder repariert und funktionstüchtig hält, hätte eine solche Truppenansammlung an die UN- Atombehörde weitergemeldet. Ihr oberster Inspekteur, Rafael Mariano Grossi, steht in fast täglichem Austausch mit den Technikern, wie er in seiner Ansprache vor dem UN-Sicherheitsrat erklärte. Leider verschwieg Grossi in seiner Rede, dass er nie eine Meldung über die angebliche russische Militärbasis erhalten hat. Das wäre seine Pflicht gewesen – die Nachricht hätte zur Wahrheitsfindung beigetragen.
Angriffe gegen die gefährlichen Sicherheitsbereiche ohne militärischen Sinn
Die Ziele der Einschläge im AKW ergeben keinen militärischen Sinn. Sie richten sich stattdessen mit großer Präzision gegen die sensible Infrastruktur des Nuklearbetriebes, zuletzt am 12. August mit Lenkraketen aus westlicher Produktion, die es im russischen Arsenal nicht gibt. Eines der ferngelenkten Geschosse ging zehn Meter von der Lagerstätte für verbrauchte Brennstoffelemente entfernt nieder. Ein Treffer hätte das ganze Gebiet atomar verseucht. Am 7. August wurde eine Stromverteilerstation getroffen. Alle Sicherheitsmechanismen, besonders das Kühlsystem der Brennstäbe, wären ohne Strom ausgefallen und hätten zu einem GAU mit möglicher Kernschmelze führen können. Nur Experten mit Kenntnis der technischen Funktionsweise des AKWs können solche Ziele auswählen.
Eine atomare Katastrophe vernichtet Militär und Bevölkerung beider Seiten
Schließlich möchte man auch verstehen, warum Russland seine eigenen Truppen mit Drohnen, Artillerie und Raketen angreifen sollte – falls sie wirklich dort wären? Wo bleibt die Logik, Herr Blinken? Durch diese Angriffe kann eine atomare Katastrophe ausgelöst werden, die die russischen Streitkräfte in der Ukraine vernichtet, die ukrainischen Streitkräfte ebenso, einen großen Teil der Bevölkerung auf ukrainischen und russischen Gebieten sowie alle landwirtschaftlichen Ressourcen der betroffenen Region für Jahrzehnte unbrauchbar macht. Wie ist es möglich, dass Herr Antony Blinken so eine Story, ohne zu stottern, der 10. Internationalen Sicherheitskonferenz über den Rüstungskontrollvertrag präsentiert?
Russische Raketen auf die Kernanlage: Auslöser für einen Erstschlag der NATO
Man stelle sich vor, Russland würde wirklich ein Kernkraftwerk in der Ukraine bombardieren: Im Westen wäre die Hölle los! Daraus könnte die Rechtfertigung für einen atomaren Erstschlag der NATO entstehen – denn die Explosion des größten AKWs Europas wäre mit einer Atombombe vergleichbar. Steuert die NATO darauf hin? Die unentwegten Behauptungen in der westlichen Presse und seitens ihrer Politiker, Russland würde das AKW Saporoschje bombardieren lässt den Verdacht aufkommen, dass die NATO dieses Szenario tatsächlich als Option aufbaut.
Forderung des Westens nach Rückgabe des AKWs an die Ukraine
In den letzten Tagen hat sich der Westen einem neuen Szenarium zugewandt. Die G7-Staaten veröffentlichten ein Dokument mit der Forderung, Russland solle nun das AKW samt der bisher besetzten Gebiete von Saporoschje an die Ukraine zurückgeben.
Nachdem also eindeutig klar ist, dass Kiew in absolut unverantwortlicher Weise schon seit neun Tagen täglich versucht, das AKW zum explodieren zu bringen, wollen es die NATO-Länder an eben diese Kräfte übergeben. Wo bleibt da die Logik, Herr Stoltenberg? Was wollen Sie damit erreichen? Dass diese Täter ungestört die Katastrophe in Gang setzen können, die sie bisher nicht auslösen konnten – dank der Bewachung der Zugänge durch russische Soldaten, dank der russischen Luftabwehr?
Schwarzhandel mit Plutonium und angereichertem Uran: ein Millionengeschäft
Kiew hat bereits vorexerziert, dass die westlichen Waffenlieferungen zu 70 Prozent auf dem Schwarzmarkt landen. Unter diesen Umständen muss damit gerechnet werden, dass auch Plutonium und angereichertes Uran "unter der Hand" neue Käufer findet, wenn Selenskij und seine Leute freien Zugang zu Saporoschje erhalten. Terrororganisationen wie der Islamische Staat werden sich um das Kernwaffenmaterial reißen. Wissen die NATO-Staaten, was sie tun?
Kiew kann in wenigen Tagen "schmutzige Bomben" bauen.
In Saporoschje befindet sich das größte Endlager für abgebrannten Atommüll der Ukraine. Das Material kann für den Bau von "schmutzigen Atombomben" mit nur 30 oder 40 Kilo Atommüll und / oder Plutonium verwendet werden. Die Ukraine hat die Technologie, um sie in wenigen Tagen herzustellen und per Raketen in den Donbass oder die russischen Grenzregionen zu schießen. Durch eine Explosion mit konventionellem Sprengstoff wird das hochgiftige Plutonium in der Gegend verbreitet. Die Ukraine könnte in wenigen Tagen solche Bomben produzieren.
Bereits auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos dieses Jahres hatte Rafael Grossi vor den in Saporoschje gelagerten Gefahren gewarnt. Er sagte: "Und insbesondere jetzt, wie sie vielleicht wissen, versuchen wir, in das Atomkraftwerk in Saporoschje zurückzukommen, die größte Kernkraftanlage in Europa. Sechs Atomreaktoren, 30.000 Kilo Plutonium, 40.000 Kilo angereichertes Uran, und meine Inspektoren haben keinen Zugang."
In seinem Beitrag vor dem UN-Sicherheitsrat beschreibt Generaldirektor Rafael Grossi die geplanten Tätigkeiten der Inspekteure im AKW Saporoschje. Darunter folgende Arbeiten: "Die IAEO würde auch dringend Sicherungsmaßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Kernmaterial nur für friedliche Zwecke verwendet wird. Experten müssen den Status der Reaktoren und Bestände an Nuklearmaterial überprüfen, um sicherzustellen, dass nicht von der friedlichen Nutzung abgewichen wird."
Nur die UN-Atomexperten können abgleichen und feststellen, ob und wie viel der radioaktiven Substanzen bereits entwendet wurde. Das könnte einer der Gründe sein, warum das Team nicht nach Saporoschje gelangt.
Ein Nachwort: Zwischen dem 13. und 14. August gab es wieder Veränderungen. EU- Chefdiplomat Josep Borrel wartet mit einem neuen Plan auf. Er unterstütze die Einrichtung einer für die Streitkräfte verbotenen Zone rund um das Kraftwerk. Das kommt der Forderung nach Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet gleich.
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