Eine Analyse von Alexander Nepogodin
Nach heftigen Kämpfen zogen Ende Juni die letzten verbliebenen Einheiten der ukrainischen Streitkräfte aus Sewerodonezk ab, dem großen Industriezentrum im westlichen Teil der Volksrepublik Lugansk.
Im Jahr 2004 war die Stadt Gastgeber des Kongresses der "Föderalisten" – ein Treffen ukrainischer Politiker, die den Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch während der vom Westen forcierten Orangenen Revolution unterstützt hatten. Sie erklärten die Proteste in Kiew zu einem Putschversuch und warnten davor, dass eine illegitime Regierung, sollte sie an die Macht kommen, den Kongress zu der Reaktion veranlassen könnte, die Autonomie des Südostens zum Schutz der dort lebenden Einwohner zu etablieren.
Gleichzeitig beschlossen regionale Abgeordnete, ein Referendum über die Umwandlung des Landes in einen föderalen Staat abzuhalten und baten den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Unterstützung. In diesem Aufsatz wird der erste Versuch der südöstlichen Regionen der Ukraine beschrieben, von Kiew unabhängig zu werden, und erklärt, wie die Ereignisse von 2004 den heutigen bewaffneten Konflikt im Donbass bestimmen.
Ein Schritt von der Föderation entfernt
Politische Diskussionen über einen möglichen Zerfall der Ukraine und ihre Neuordnung gibt es seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991. Ironischerweise war Wjatscheslaw Tschornowil, der Gründer der nationaldemokratischen Partei "Narodnyi Ruch" (Volksbewegung der Ukraine), einer der ersten, die die Einheit des Landes in Frage stellten und zudem ein Held der ukrainischen Nationalisten. Allerdings sah er lediglich die Möglichkeit, die Ukraine in eine Föderation umzuwandeln. Die Idee der Föderalisierung stand immer wieder im Mittelpunkt von Debatten, die – bis zum Maidan 2014 – gemeinhin als "separatistischer Diskurs" bezeichnet wurden.
Bereits 1989 schrieb Tschornowil, die Ukraine solle eine "Vereinigung von Regionen" sein. "Ich stelle mir die zukünftige Ukraine als einen föderalen Staat vor, einen Zusammenschluss von Regionen, die sich im Laufe der Geschichte geformt haben. Regionen, die sich durch ihre natürlichen, klimatischen, kulturellen, ethnografischen und sprachlichen Unterschiede definieren und Eigenheiten in ihrer Wirtschaft, ihren Gewohnheiten und Bräuchen aufweisen, und die die einzigartige Vielfalt dieser Völker bestimmen. Ich stelle mir die Volksrepublik Ukraine vor, die Regionen wie das Kiewer Gebiet, Podolien, Wolhynien, Galizien, Bukowina, Transkarpatien, Sloboda-Ukraine, Saporischschja, Donezk und Taurien umfasst, während die Krim als unabhängiger Nachbar eine autonome Republik im Bündnis mit der Ukraine sein könnte", schrieb er. Tschornowil fügte hinzu, dass Ukrainisch die einzige Staatssprache in der neuen Föderation sein sollte, obwohl regionale Behörden einige Gebiete zweisprachig verwalten könnten.
Zwei Jahre später, 1991, initiierte Tschornowil die sogenannte Galizien-Versammlung, die sich für eine Verwaltungsreform und die Schaffung einer neuen autonomen regionalen Einheit, Galizien, auf der Grundlage des Zusammenschlusses der Regionen von Lemberg, Ternopol und Iwano-Frankowsk, aussprach. Obwohl die Versammlung einer der Katalysatoren für die Unabhängigkeit der Ukraine war, wurden die Unterstützer Tschornowils des Separatismus beschuldigt, nachdem Leonid Krawtschuk zum ersten Präsidenten der Ukraine gewählt worden war.
Dies war zu einem großen Teil auf Ideen zurückzuführen, eine Donezk-Republik und ein Noworossija im russischsprachigen Südosten der Ukraine zu schaffen, die in den 1990er Jahren in Umlauf kamen. Im Laufe der Zeit wurden die Vorschläge von Tschornowil als zu radikal angesehen und die Gegner der Föderalisierung brachten seine Ideen mit dem Zerfall des Landes in Verbindung.
Als die ukrainische Verfassung 1996 verabschiedet wurde, definierte diese die Ukraine als Einheitsstaat, wodurch die Frage der Föderalisierung aus der Tagesordnung fiel. Und doch gehörte zur Ukraine neben den 24 Regionen und zwei föderalen Städten – Kiew und Sewastopol – auch die Autonome Republik Krim, die für einige Jahre sogar eine eigene Verfassung und einen eigenen Präsidenten hatte. In all diesen Jahren gelang es dem ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk und seinem Nachfolger Leonid Kutschma, das richtige Gleichgewicht zwischen Außen- und Innenpolitik zu finden, insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Regionen.
Im Jahr 2004, als der Ausgang der Proteste in Kiew noch ungewiss war, begannen Politiker, die Janukowitsch nahe standen – der im Westen trotz seiner jahrelangen Verhandlungen mit der EU immer als "pro-russisch" bezeichnet wurde –, die Idee der Föderalisierung wiederzubeleben. Mitglieder der "Partei der Regionen" stellten sich auf den Standpunkt, dass die Ukraine als Einheitsstaat gescheitert sei und daher als Föderation mit einem hohen Maß an Autonomie auf der Ebene der Verwaltungs- und Regionalkörperschaften neu organisiert werden muss. Die Ukraine durchlebte dadurch eine echte Krise und diese Spaltung brachte das Land wahrscheinlich zum ersten Mal an den Rand eines umfassenden zivilen Konflikts.
"Wir werden uns von Galizien nicht vorschreiben lassen, wie wir unser Leben leben sollen"
Die Massenproteste in Kiew, die später als Orangene Revolution bekannt wurden, stießen im Südosten der Ukraine, namentlich im Donbass, auf wenig Begeisterung. Während ein Teil der Demonstranten auf dem Maidan behauptete, ihrem "pro-europäischen" Kandidaten Wiktor Juschtschenko sei der Wahlsieg "gestohlen" worden, empfanden viele Anhänger von Janukowitsch dasselbe, nachdem ihre Gegner die Annullierung der offiziellen Wahlergebnisse verlangt hatten, die letzteren zum Sieger der Präsidentschaftswahlen erklärt hatten. Eine Reaktion auf die Proteste in der Hauptstadt stand somit unmittelbar bevor.
Am 28. November begrüßte der gesamtukrainische Kongress der Abgeordneten mehr als 3.500 Pro-Janukowitsch-Delegierte aus dem ganzen Land in Sewerodonezk. Sie erklärten, die Proteste seien ein Putschversuch und warnten, dass eine unrechtmäßige Regierung unter der Führung von Juschtschenko, den Kongress veranlassen könnte, eine Autonomie zum Schutz der Bewohner der Südostukraine zu etablieren.
In der Schlusserklärung des Kongresses, die von den Delegierten einstimmig angenommen wurde, hieß es: "Wenn sich die gesellschaftspolitische Situation im Land nach dem schlimmsten Krisenszenario entwickelt, werden wir standhaft und vereint sein, um das Votum der ukrainischen Bevölkerung zu verteidigen – bis hin zur Abhaltung eines Referendums über mögliche Änderungen der administrativen und territorialen Struktur der Ukraine."
Die Bedeutung der Versammlung wurde zusätzlich durch die Anwesenheit des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow erhöht, der eine scharfe Rüge an die radikale Opposition in der Ukraine richtete. "Auf der einen Seite sehen wir dieses orangefarbene Chaos (Orange wurde zum Symbol der Unterstützung für Juschtschenko), das behauptet, die Mehrheit in der Ukraine zu repräsentieren. Andererseits haben wir heute diese stille Kraft in diesem Raum versammelt", sagte Luschkow unter Applaus.
Gleichzeitig hatte der Regionalrat von Lugansk ein Alternativprojekt entwickelt, das die Gründung einer Südostukrainischen Autonomen Republik mit Charkow als Hauptstadt vorschlug. Zusätzlich zu der Initiative baten lokale Abgeordnete auch Präsident Putin, ihnen bei der Organisation eines Referendums über die Föderalisierung der Ukraine zu helfen. Das Referendum war für den 5. Dezember 2004 angesetzt. Gleichzeitig beschloss der Regionalrat von Donezk, eigene Polizeikräfte aufzustellen. Die führenden Politiker der südöstlichen Regionen der Ukraine begannen, ihre Unterstützung für die Idee einer Umstrukturierung des Landes zum Ausdruck zu bringen. Die Behörden von Charkow beschlossen, Komitees mit exekutiven Staatsbefugnissen einzurichten.
Gouverneur Jewgeni Kuschnarew wurde zum Vorsitzenden des regionalen Exekutivkomitees gewählt – er war bekannt als pro-russischer Politiker und Befürworter der Föderalisierung und galt für viele Journalisten und Aktivisten als hoffnungsvoller Präsidentschaftskandidat. Zu seinen damaligen Aufgaben gehörte die Koordination zwischen den Räten in den südöstlichen Territorien. Auch stellte die Region Charkow ihre Zahlungen an den Staatshaushalt ein und wartete auf eine Stabilisierung der Lage in Kiew.
Es war Kuschnarew, der die Idee in Worte fasste, die später die Entwicklung des bewaffneten Konflikts im Donbass bestimmen sollten. Auf dem Kongress in Sewerodonezk sagte er: "Ich möchte alle daran erinnern, dass wir 400 Kilometer von Kiew, aber nur 40 Kilometer von Russland entfernt sind. Wir verstehen, dass sich der Osten sehr von Galizien im Westen unterscheidet. Wir zwingen Galizien unsere Lebensweise nicht auf, aber wir werden uns auch niemals von Galizien vorschreiben lassen, wie wir unser Leben leben sollen."
Zusammen mit Boris Kolesnikow, dem Vorsitzenden des Regionalrats von Donezk, schlug er vor, in jeder Stadt ein Referendum zu organisieren, um zu sehen, ob die Menschen der Regierung vertrauen, und um sie zu fragen, was sie von einer "Neubelebung" der Ukraine als föderale Republik halten.
All diese politischen Aktivitäten im Südosten des Landes verursachten einige ernsthafte Bedenken im Westen des Landes, wo die Regionalregierungen zu verstehen begannen, dass eine Auflösung des Staates durchaus im Bereich des Möglichen lag. Daraufhin wurden die diplomatischen Kanäle aktiviert. Vertreter der Europäischen Union und aus Russland begannen, häufige Besuche im Land abzuhalten, um Kompromisse auszuarbeiten. Am Ende wurde das Referendum zwar nicht durchgeführt, aber es wurde ein Prozess vereinbart, um die Macht an Juschtschenko zu übertragen.
Der Prozess sah so aus: Juschtschenko bekam grünes Licht, sein Wahlsieg in der Stichwahl wurde von seinen Gegnern akzeptiert. Im Gegenzug erklärte sich Juschtschenko bereit, die Verfassung zu ändern und die Privilegien des Präsidentenamts zum 1. Januar 2005 einzuschränken, was die Ukraine in eine parlamentarische Republik umgewandelt hätte. Damit gaben die Regionalregierungen im Südosten ihre Pläne zur Föderalisierung auf.
Dem Abgrund einen Schritt näher
Anschließend hatte niemand mehr ein Problem damit, den Kongress der "Föderalisten" in Sewerodonezk und die von den lokalen Regierungen im Südosten angekündigten Pläne zu vergessen. Sie wurden nur jeweils dann wieder in Erinnerung gerufen, wenn versucht wurde, die örtlichen Bonzen zu erpressen oder einzusperren. Die Bedeutung dieser Ereignisse sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Es war das allererste Mal, dass der Südosten deutlich gemacht hatte, wie er auf die Ambitionen der "Patrioten" in Kiew reagieren würde, die versuchten, die Macht zu übernehmen und sich über die Meinung der Hälfte der Bevölkerung des Landes hinwegzusetzen. Damals gab es keine Konsequenzen, weil die Konfliktparteien eine Kompromisslösung fanden, während Russland gleichzeitig darauf verzichtete, Janukowitsch zu unterstützen.
Nach einer gewissen Zeit gerieten einige Teilnehmer des Kongresses in Sewerodonezk jedoch stark unter Druck. Gegen Jewgeni Kuschnarew – ein prominentes Mitglied der "Partei der Regionen" – wurde ein Strafverfahren wegen Separatismus eingeleitet, das später jedoch eingestellt wurde. Das reichte aber für Kuschnarew, um sich von der Agenda des Separatismus zu distanzieren und sich stattdessen auf regionale Themen zu konzentrieren. Im Jahr 2005 "engagierte" er Janukowitsch, wie er es nannte, indem er seine Plattform "Neue Demokratie" mit der "Partei der Regionen" verschmolz. Bei den Parlamentswahlen 2006 traten die beiden Politiker gemeinsam an. Es war Kuschnarew, der am häufigsten die einzelnen Punkte des Wahlprogramms ansprach, darunter auch die Frage nach dem Status der russischen Sprache.
Im Januar 2007 wurde Kuschnarew während einer Jagd im Distrikt Isjum in der Region Charkow schwer verwundet. Einer seiner Begleiter, der ihn bei der Jagd begleitete, hatte ihn angeschossen. Einen Tag später starb Kuschnarew trotz zweier Notoperationen. Er galt als führende Figur des Anti-Maidan und als pro-russischer Präsidentschaftskandidat.
Die Ereignisse jener Jahre – die Orangene Revolution, die Bestrebungen zur Föderalisierung im Südosten der Ukraine und der Tod von Kuschnarew, einem populären Fürsprecher Russlands und des Föderalismus – markierten das Ende der ersten Ära in der Geschichte einer unabhängigen Ukraine. Die Machthaber, Kutschma eingeschlossen, blieben dabei alles andere als makellos. Sie hatten viel zu verantworten. Aber diese Leute wurden noch in der Sowjetzeit geformt und sie hatten ein Verantwortungsgefühl für ihr Land und verstanden, wie komplex die Situation in der Ukraine und im Ausland wirklich war.
In dieser Zeit vermied die Politik radikale Schritte und versuchte, Konflikte durch Kompromisse zu lösen. Aber als Juschtschenko an die Macht kam, gab er diesen Ansatz auf und versuchte, der Ukraine eine Agenda aufzuzwingen, die Millionen Bürgern fremd war. Eine aggressive "Ukrainisierung" und eine Politik, die darauf abzielte, das Land von Russland zu distanzieren, führten schließlich zu wachsenden Spannungen und einer langwierigen politischen Krise.
All dies hat die Ukraine in ihren heutigen Zustand gebracht – ein Land, das von innenpolitischen Krisen und wirtschaftlicher Instabilität geplagt wird, eine Nation, die unter territorialen Verlusten leidet und von einem bewaffneten Konflikt im Südosten verwüstet wird, der 2014 begann. Heute blickt die Ukraine auf eine Periode zurück, die 2004 endete und als die letzte friedliche Ära in der modernen Geschichte der Ukraine gilt.
Kiews Versäumnis, die richtigen Schlüsse aus dem "Fall Sewerodonezk" zu ziehen, trug zu der Tragödie bei, die sich 2014 in der Ukraine ereignete. Die ukrainische Gesellschaft war nie in der Lage, ihre innere Spaltung zu überwinden. Und die ein Jahrzehnt nach 2004 einsetzende Revolution spaltete das Land nur noch mehr.
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Übersetzt aus dem Englischen.
Alexander Nepogodin ist ein in Odessa geborener politischer Journalist und Experte für Russland und die ehemalige Sowjetunion.