Die ukrainische Seite feuerte absichtlich eine Rakete auf das humanitäre Zentrum in Cherson ab, die jedoch von russischen Luftabwehrsystemen abgeschossen wurde. Das teilte der Leiter der zivil-militärischen Verwaltung der Region, Wladimir Saldo, am Montag dem Fernsehsender Rossija 24 mit. "Eine der Raketen war auf ein humanitäres Zentrum im Zentrum von Cherson gerichtet, in das viele Menschen kamen. Eine zynische Zielwahl", sagte Saldo. Er gab an, dass zwei der Opfer leichte Splitterwunden hatten. "Die Betroffenen sind außer Gefahr", fügte Saldo hinzu.
Laut TASS wurden am Sonntag russische Luftabwehrsysteme am Himmel über Cherson ausgelöst, vier Explosionen waren zu hören, und Rauch war in der Perekopskaja-Straße im Stadtzentrum zu sehen. Ein Haus, in dem eine Familie mit einem Kind gelebt hatte, wurde zerstört, und zwei Personen wurden verletzt.
Dies geschah zwei Tage, nachdem die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine Irina Wereschtschuk die Bewohner der Regionen Cherson und Saporoschje aufgefordert hatte, diese so schnell wie möglich zu verlassen. Sie begründete ihren Aufruf damit, dass "die Artillerie arbeiten muss" und die sogenannte Deokkupation, die die ukrainischen Streitkräfte durchführen wollen, "die Anwendung von Waffengewalt beinhaltet".
Ähnlich äußerte sich der Verteidigungsminister der Ukraine Alexei Resnikow, als er sagte, dass die Truppen den Befehl von Präsident Wladimir Selenskij erhalten hätten, den Süden des Landes zurückzuerobern. Nach Angaben Resnikows umfasst die Zahl der ukrainischen Streitkräfte "etwa 700.000 Personen", und Kiew könnte insgesamt "etwa eine Million Menschen zusammen mit der ukrainischen Nationalgarde, der Polizei und dem Grenzschutz" auf das Schlachtfeld bringen. Westliche Rüstungsgüter sollten den ukrainischen Streitkräften bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen, sagte der Minister und forderte die NATO-Länder auf, ihre Lieferungen zu erhöhen. Er fügte hinzu, dass zwei Brigaden des ukrainischen Militärs derzeit eine Ausbildung in Großbritannien absolvieren.
Experten weisen auf Widersprüche in den Worten des ukrainischen Ministers hin und halten sein Versprechen, eine Millionenarmee zu bilden, für nicht realisierbar.
"Erst sagt Resnikow, dass die Ukraine kolossale Verluste auf dem Schlachtfeld erleidet, und dann berichtet er von einer Million Soldaten. Wer wird unter dieser Million sein? Menschen, die zwangsweise mobilisiert wurden? Diejenigen, die noch nie eine Waffe in der Hand hatten? Soldaten, die sich bereits zurückgezogen haben und erkennen, dass dies fast die einzige Möglichkeit ist, am Leben zu bleiben? Oder Frauen?", fragt sich Wladimir Rogow, Mitglied des Hauptrates der zivil-militärischen Verwaltung der Region Saporoschje.
"Selenskij und sein Büro versuchen irgendwie, die Moral des Militärs zu verbessern, die nicht nur zu wünschen übrig lässt, sondern gleich null ist. Mit diesen Worten können sie sich noch einige Monate hinziehen und von einem schnellen Sieg sprechen. Am Ende werden die ukrainischen Streitkräfte dennoch besiegt werden. Selenskij übersieht völlig die Tatsache, dass es uns gelingt, jeden Tag ein bewohnter Ort nach dem anderen einzunehmen", erklärte Rogow der Zeitung Wsgljad.
Die Hauptstrategie Kiews heute sei eine Politik der Einschüchterung. "Sie nutzen aktiv terroristische Anschläge in ihrem Arsenal. Wir sehen sie immer wieder in den befreiten Gebieten. So wurde vor Kurzem ein Anschlag auf den Leiter des Bezirks Melitopol, Andrei Siguta, verübt. Aber es ist nicht möglich, die Bevölkerung mit solchen Aktionen zu verschrecken", so Rogow.
"Man sollte die Worte Kiews über die 'Rückkehr des Südens' nicht herablassend auffassen und als Bluff betrachten. Soweit ich weiß, konzentriert die Ukraine jetzt große Kräfte in Nikolajew und an die Oblast Cherson angrenzenden Bezirkszentren. Nikolajew ist überfüllt mit Militärpersonal, ausländischen Söldnern und einer riesigen Menge an gepanzerter Ausrüstung: Panzer, Mehrfachraketenwerfer, Artillerie usw. Es hat alles seinen Grund", sagte Larissa Schesler, Vorsitzende der Union der politischen Emigranten und politischen Gefangenen der Ukraine. "Ich glaube nicht, dass eine solche Offensive für die Ukraine von Erfolg gekrönt sein wird, aber sie wird die soziale und wirtschaftliche Situation im Süden mit Sicherheit erschweren", warnt die Menschenrechtsaktivistin.
"Das größte Problem für die Kiewer Behörden besteht darin, dass im Süden der Ukraine eine Oase entstanden ist, wenn man so will, verglichen mit dem Rest des Landes. Die Menschen dort leben und arbeiten in friedlichen Städten, die nicht zerstört wurden. Sie beginnen, russische Pässe, Zulagen und Renten zu erhalten. Russische Banken haben geöffnet. Natürlich will Kiew diese Errungenschaften zerstören, aber die ukrainischen Streitkräfte können die Städte nicht im Sturm erobern", so Schesler.
"Selenskij will die Etablierung eines friedlichen Lebens in dieser Region verhindern, weil sie in starkem Gegensatz zu dem steht, was in Charkow, Nikolajew und anderen ukrainischen Städten geschieht, wo Nationalisten auf der Straße marschieren, Menschen allein für ihre Ansichten bestraft werden, Repressionen wüten wie nie zuvor und die Armee die Zivilisten als Schutzschild benutzt", so die Expertin abschließend.
Gleichzeitig glauben die Militäranalysten, dass die Drohungen Wereschtschuks und Resnikows nicht für bare Münze genommen werden sollten. "Man sollte solchen Versprechungen gegenüber kritisch sein, insbesondere, wenn sie vom Verteidigungsminister gemacht werden. Im Krieg ist es nicht üblich, seine wahren Pläne zu offenbaren. Wahrscheinlich hofften diejenigen, die sich das ausgedacht haben, unsere Offensive im Donbass aufzuhalten, damit wir jetzt alle unsere Kräfte von dort nach Süden verlagern", meint Alexander Perengiew, außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Russischen Wirtschaftsuniversität Plechanow.
"Dies bedeutet jedoch nicht, dass es im Süden keine Anschläge geben wird. Es ist möglich, dass ukrainische Streitkräfte die Lage sondieren werden, um zu sehen, wie stark die Präsenz unserer Armee dort ist. Auch eine andere Option ist durchaus denkbar: Russland wird vom Süden aus zuschlagen, um die ukrainischen Einheiten vom Donbass wegzulocken", meint der Politologe.
"Es ist kein Zufall, dass die ukrainischen Streitkräfte Cherson auf die gleiche Weise wie Donezk beschossen haben. Ihre Wut verlagert sich von den Bewohnern des Donbass auf die Bewohner der südlichen Regionen der Ukraine, die sich entgegen den Erwartungen Kiews als prorussisch erweisen", so der Experte.
"Selenskijs Wunsch, den Süden zurückzuerobern, wird schwere Verluste aufseiten der ukrainischen Truppen mit sich bringen. Jetzt verfügen sie über eine ausreichend große Menge an Waffen, aber selbst damit werden sie nicht in der Lage sein, eine solche Aufgabe zu bewältigen", erklärt Konstantin Siwkow, Doktor der Militärwissenschaften. "Um das Ziel zu erreichen, muss die Ukraine den Westen bitten, die Waffenlieferungen zu erhöhen. Sie benötigen möglicherweise 500 bis 600 Panzer, etwa 1.500 Geschütze und 200 bis 300 Flugabwehrraketensysteme", so der Experte.
"Aber heute wird alles in Stückzahlen geliefert, bestenfalls in Dutzenden von Teilen. Das heißt, das Volumen der Lieferungen sollte um das 20- bis 100-Fache erhöht werden. Dies sind sehr große Zahlen. Das ist kaum möglich", meint Siwkow.
Bemerkenswert ist, dass die Drohungen aus Kiew vor dem Hintergrund einer mutmaßlichen Operationspause der russischen Armee erfolgten, über die das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) zuvor geschrieben hatte. Nach Ansicht der Analysten des Instituts müssen die russischen Streitkräfte "die Voraussetzungen für größere Offensivoperationen schaffen und die für die Umsetzung des Plans erforderliche Kampfkraft wiederherstellen". Nach den Erkenntnissen des ISW rücken die russischen Streitkräfte weiter nach Westen in Richtung Sewersk vor und bereiten eine Offensive gegen Artjomowsk (Bachmut) vor (beide Orte liegen im ukrainischen besetzten Teil der Volksrepublik Donezk – Anm. der Red.).
Anfang Juli zeigte sich der russische Botschafter im Vereinigten Königreich Andrei Kelin zuversichtlich, dass die russische Armee die ukrainischen Streitkräfte im Donbass besiegen und im Süden des Landes bleiben werde. "Wir werden den gesamten Donbass befreien", sagte der Diplomat. "Wenn unsere Truppen abgezogen würden, käme es in der Südukraine zu Provokationen und Erschießungen, sodass ein solcher Abzug aus den besetzten Gebieten schwer vorstellbar ist", so Kelin weiter.
Unterdessen vermied Selenskij selbst kurz nach Verkündigung der Plänen zur Zurückeroberung aus irgendeinem Grund eine öffentliche Diskussion über die Drohungen des Verteidigungsministeriums. Bei einem allgemeinen Briefing mit dem niederländischen Premierminister Mark Rutte sagte Selenskij, er habe Resnikows Rede "nicht gelesen" und lehne es ab, seine militärischen Pläne zu kommentieren.
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Übersetzung aus dem Russischen