von Wladislaw Sankin
Die deutschen Panzerhaubitzen 2000 sind nach einem langen bürokratischen Hin und Her endlich im Einsatzgebiet der Ukraine angekommen – pünktlich am Vorabend zum 22. Juni –, also an einem Tag, der als Datum des Nazi-Überfalls auf die Sowjetunion im Jahre 1941 bei den Einwohnern Russlands, Weißrusslands und der Ukraine verständlicherweise symbolbeladen ist. Dessen ungeachtet zeigten sich die deutschen Offiziellen an diesem Tag hocherfreut über die gelungene Waffenlieferung und plauderten schon über die nächsten Waffensysteme, die ukrainische Seite bei den Deutschen "bestellt" hat.
So sprach die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) bei den ARD-Tagesthemen über die Lieferliste deutscher Waffen für die Ukraine, es ging also um die nächsten Waffen. Aber sie befand es für nötig, vor dem abendlichen TV-Millionenpublikum noch einmal die Bedeutung der Haubitzen für die gegen die Russen kämpfende Ukrainer zu betonen:
"Sieben (Haubitzen) sind aus deutschem Bestand, fünf aus Niederlanden – sie kommen aus dem Bestand der Bundeswehr. Und das ist richtig so, weil dieser Krieg, der in Ukraine herrscht, dieser Überfall Russlands auf die Ukraine, auf dieses Land, wo mehr Zivilisten ums Leben gekommen sind als Soldaten, … braucht die Hilfe Europas und braucht unsere Hilfe … Deswegen ist es gut, dass wir beschlossen haben, diese Haubitzen zu liefern."
Also sei die Tatsache, dass in der Ukraine mehr Zivilisten gestorben seien als Soldaten, Strack-Zimmermann zufolge zumindest bei dieser Argumentationskette einer der wichtigsten Gründe für die Übergabe schwerer Waffen samt der damit verbundenen Ausbildung für 60 Artilleristen. Diese Behauptung widerspricht jedoch allen bis jetzt bekannten Statistiken.
Wie viele Opfer kostete dieser Krieg in seiner Phase seit Beginn der russischen militärischen Sonderoperation am 24. Februar bislang tatsächlich? Darüber gibt es aus verständlichen Gründen beiderseits unterschiedliche, aber daher noch keine verlässlichen und unabhängig geprüften Zahlen. Und daher ist es schon allein aus diesem Grund verwunderlich, dass eine Sicherheitspolitikerin eines Drittlandes sich schon weit vor Ende der Kriegshandlungen derartig festlegen will. Bislang gibt es lediglich Meldungen verschiedener Konfliktparteien und Expertenschätzungen. Und diesen zufolge liegt die medial in Deutschland omnipräsente FDP-Politikerin mit ihrer Aussage nachweislich falsch.
Zivile Opfer laut UNO
Politiker berufen sich in der Regel auf Angaben wie die des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR). Zumindest lieferte dieses Büro zu dem innerukrainischen (Bürger-)Krieg im Donbass von 2014 bis 2022 vergleichsweise verlässliche Zahlen. Und am 9. Juni meldete das Büro seit dem 24. Februar 2022 insgesamt 9.585 zivile Opfer im Lande: 4.339 Tote und 5.246 Verletzte, unter den Getöteten 1.646 Männer, 1.098 Frauen, 102 Mädchen und 105 Jungen sowie 67 Kinder und 1.321 Erwachsene, deren Geschlecht noch unbekannt ist. Da viele Menschen noch als vermisst gelten, können diese Zahlen mit großer Wahrscheinlichkeit nach oben korrigiert werden müssen.
Mehr als die Hälfte dieser Opferzahlen betreffen laut UNO die Regionen Donezk und Lugansk: 2.527 Tote und 2.990 Verletzte, wobei in den von der ukrainischen Regierung derzeitig kontrollierten Gebieten insgesamt 4.698 Opfer, darunter 2.370 Tote und 2.328 Verletzte, zu verzeichnen seien und "auf dem von mit Russland verbundenen bewaffneten Gruppen kontrollierten Gebiet" 157 Tote und 662 Verletzte.
Angaben zu ukrainischen Soldaten
Über diese Zahl gibt es – verständlicherweise – sehr viele widersprüchliche Meldungen. Das gilt auch für die Angaben der russischen Seite. In einem bewaffneten Konflikt gehört es leider zur Natur der Sache, dass alle Seiten gerade in diesem sensiblen Bereich teils ganz bewusst bisweilen Desinformation streuen. Die eigenen Angaben bilden aber in jedem Fall den Ausgangspunkt und zumindest eine der Grundlagen für weitere Abschätzungen und genauere Zählungen. Am 10. Juni hat die Führung in Kiew – erstmals nach dreieinhalb Monaten – eine Zahl für eigene Verluste genannt: Laut dem Berater Alexei Arestowitsch des ukrainischen Präsidenten Selenskij waren es angeblich 10.000 Soldaten, die bei den Kämpfen gefallen sind.
Seitdem geben die Kiewer Offiziellen an, dass die Ukraine jeden Tag etwa 100 bis 200 oder noch mehr Soldaten verliert. Russland meldet täglich mehrere Hundert getötete "ukrainische Nationalisten". Da die Getöteten aber oftmals von ihren Kampfkameraden nicht geborgen werden, bleiben viele Leichen von Kämpfern auf dem Schlachtfeld liegen. Vielfach meldeten die Volksrepubliken Donezk (DVR) und Lugansk (LVR), die ukrainische Seite habe keinerlei Interesse an der Bergung und Übergabe ihrer Toten signalisiert. Wenn Soldaten als vermisst gelten, müsse keine Rente an Hinterbliebene für den Verlust ihrer Angehörigen ausbezahlt werden, lautet eine mögliche, zumindest plausible Begründung. Laut dem Vize-Minister für Information der DVR Daniil Bessonow hätten die Ukrainer bereits 30.000 Soldaten unwiederbringlich verloren: "Unsere Kämpfer führen dazu ihre eigene Statistik."
Unter Berücksichtigung möglicher Untertreibung oder Übertreibung der jeweils anderen Seite und täglich neuer Zahlen könnte man annehmen, dass die Ukraine derzeit schätzungsweise mindestens 20.000 getötete Kämpfer zu beklagen hat.
Da sich die deutsche Bundesregierung im gesamten Donbass-Konflikt, der laut UNO von 2014 bis Anfang 2022 mehr als 13.000 Menschen das Leben kostete, bisher nur für das Sterben oder Überleben ukrainischer Soldaten interessierte (vergleiche Annegret Kramp-Karrenbauer bei "Anne Will" und Angela Merkel bei ihrem Besuch in Moskau sowie in Kiew im August 2021) dürften die Verluste der russischen Seite und auch der Donbass-Milizen für die Argumentation der Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann wohl ziemlich irrelevant sein. Es bleibt dennoch anzumerken, dass die jeweiligen Zahlen in beiden Fällen nach bisherigen Berechnungen im unteren bis mittleren vierstelligen Bereich liegen.
Strack-Zimmermann macht absichtlich falsche Angaben
Da Frau Strack-Zimmermann als FDP-Politikerin aus einem NATO-Land "standesgemäß" keine anderen Daten als die oben zitierten Angaben aus den Regierungskreisen in Kiew und der UNO verwenden konnte, kann es als nachgewiesen angesehen werden, dass sie bei Tagesthemen absichtlich log. Das belegen auch die Zahlen im deutschen Wikipedia, wo ausgerechnet diese beiden genannten Quellen tabellarisch nebeneinander aufgeführt werden:
Man hätte allerdings auch vom ARD-Top-Moderator Ingo Zamperoni als Fragesteller in dem Interview erwarten können, dass er da nachhaken und versuchen würde, die unglaubwürdigen Angaben seiner Gesprächspartnerin per Nachfrage zu klären. Das hat aber auch der nicht getan. Denn die verlautbarten Zahlenangaben passen ja sehr bequem in das von der eigenen Propaganda gezeichnete angebliche Bild eines russischen Aggressors, der einen erbarmungslosen Krieg nicht etwa gegen das ukrainische Militär mit dessen NATO-Ausrüstung, sondern gegen die Zivilbevölkerung führe. Welche auch immer die Gründe für die Verbreitung dieser Falschnachricht sein mögen, es sind beide dafür verantwörtlich, der Interviewer ebenso wie die Interviewte.
Unstimmigkeiten bei den Angaben
Damit ist aber das Thema noch nicht abgeschlossen. Frau Strack-Zimmermann geht – wie auch der ganze deutsche politische Mainstream – selbstverständlich fest davon aus, dass alle zivilen Opfer des Konflikts nur zulasten Russlands gehen. Wenn Russland der Angreifer sei, wie könne das denn überhaupt anders gehen, fragt man sich dort scheinheilig. Die Verantwortung der Ukraine für die zivilen Opfer im Donbass und in der restlichen Ukraine wird nicht einmal als Eventualität in Betracht gezogen. Das widerspricht zumindest sogar der offiziellen Feststellung der UNO, die angibt, dass die weitaus meisten zivilen Opfer Artillerietote sind.
"Die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite verursacht, darunter Beschuss durch schwere Artillerie und Mehrfachraketen sowie Raketen- und Luftangriffe."
Mit diesem Hinweis ist es schwer, alle Toten nur einer Seite zuzuschreiben – nur nicht für die westlichen Medien. Die von ihnen gepflegte völlig unkritische, einseitig parteiergreifende Haltung ist für ukrainische Machthaber geradezu eine Einladung für allerlei weitere Manipulationen, sie sie sofort in ihr Agitationsarsenal in der Frage der Waffenlieferungen und sonstigen Präferenzen umsetzen. Jede neue solche Forderung nach noch mehr Waffen aus dem Westen wird sofort mit dem angeblichen Aufdecken eines angeblichen weiteren "Massakers" oder einer neuen, noch horrenderen Zahl der zivilen Opfer durch die Russen garniert, die laut Selenskij "unsere Städte in Schutt und Asche legen".
Es kann also durchaus sein, dass Frau Strick-Zimmermann sogar völlig aufrichtig glaubte, die Russen hätten bereits viel mehr Zivilisten als ukrainische Soldaten vernichtet. Denn auch diese völlig aus der Luft gegriffenen Angaben von örtlichen Gebietsleitern des Kiewer Regimes, die aus der Ferne fantastische Opferzahlen herbeifantasieren, finden ihren Einzug bei Wikipedia. Und da diese Web-"Enzyklopädie" bekanntermaßen aus dem Westen administriert und passend korrigiert wird, ist sie nach westlichem Verständnis über jeden Zweifel erhaben.
So gibt Wikipedia an, dass durch einen russischen Luftangriff auf eine Schule in Belogorowka im Lugansker Gebiet 60 Zivilisten starben. Diese Opferzahl wurde allerdings von einem Gouverneur, der gar nicht vor Ort war, nur vermutet – westliche "Experten" und Medien aber machten daraus ein Faktum. Und Kiew legte natürlich keine Bestätigung für solch ein angebliches Massaker vor. Das Gleiche gilt für die Schätzungen zu Sewerodonezk und Mariupol, dort seien jeweils 1.500 bzw. 22.000 Zivilisten getötet worden.
Das Dreiste an diesen und ähnlichen Angaben ist, dass die tatsächlich zahlreichen zivilen Opfer, die es in diesen Städten natürlich gibt, zum größten Teil auf das Konto des ukrainischen Militärs gehen, das dort Menschen auf verschiedene Art und Weise tötete: durch unterlassene Hilfeleistung, verweigerte Evakuierung, Vernichtung der Infrastruktur, gezielte Erschießung durch Scharfschützen und Panzerbeschuss, durch wahllosen Artilleriebeschuss der verlassenen Stadtviertel und Errichtung der Feuerstellungen in Wohngebieten oder gar Wohnhäusern.
Diese Fakten ergeben sich aus Schilderungen von Hunderten Einwohnern, die in der Summe ein stimmiges Bild liefern. Sie werden jetzt nach der Befreiung dieser Städte von Behörden, Aktivisten und Journalisten minutiös gesammelt, dokumentiert und – soweit ermittelbar –den jeweiligen Tätern zugeordnet. Und die bisher nur vermuteten Opferzahlen sind tatsächlich erschreckend – weil sie nicht mehr herbeifantasiert, sondern realen Zählungen entspringen. Allein in Mariupol könnten mindestens 5.000 Menschen während der Kämpfe umgekommen seien, teilte Chef der Donezker Volksrepublik Denis Puschilin in Mai mit. Aber es wird noch dauern, bis die Behörden verlässliche Zahlen nach all der Vermisstensuche, nach Umbettungen und sonstigen Maßnahmen melden können.
Aber auch künftig wird wohl nichts von all diesen Angaben, die den Schilderungen aus dem offiziellen Kiew widersprechen, in den deutschen Medien zu finden sein. Denn die westlichen Konsumenten der Kiewer Propaganda sind zugleich diejenigen, die solche Meldungen quasi in Auftrag geben. Sie brauchen diese Propaganda wiederum dafür, um die eigene Bevölkerung auf den schrecklichen äußeren Feind einzuschwören und die eigene unverhohlene Beteiligung an diesem Krieg – auch zugunsten der Profite der eigenen Rüstungsindustrie, wie Frau Strack-Zimmermann es im Tagesthemengespräch sogar beiläufig einräumte – mit Waffenlieferungen zu rechtfertigen.
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