Ein Kommentar von Scott Ritter
Der ehemalige polnische Außenminister und derzeitige Europaabgeordnete Radosław Sikorski hat kürzlich vorgeschlagen, dass der Westen der Ukraine Atomwaffen liefern soll, damit diese "ihre Unabhängigkeit verteidigen kann".
Die Argumentation Sikorskis fußt auf einem grundlegend falschen Verständnis des Budapester Memorandums von 1994, mit dem der Beitritt der Ukraine zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und die Aufgabe ihrer Atomwaffenbestände aus der Sowjetzeit besiegelt worden war. Hätte sich Kiew dafür entschieden, diese Waffen zu behalten, wäre die Ukraine von der internationalen Gemeinschaft als Paria-Staat behandelt worden, was ihre Überlebensfähigkeit durch das Verpassen wirtschaftlicher Chancen, die sich aus der Abschaffung seines ererbten Nukleararsenals ergeben haben, fatal untergraben hätte. Die nationale Sicherheit der Ukraine wurde durch die Aufgabe dieser Atomwaffen sogar erhöht, da damit die Türen für bessere Beziehungen zum Westen geöffnet wurden.
Natürlich zeigt die unglückliche Geschichte der Ukraine, dass eine Gelegenheit verpasst wurde. Die Militäroperation Russlands in der Ukraine ist nicht wegen einer vermeintlichen ukrainischen Schwäche ausgelöst worden, der sich aus ihrem atomwaffenfreien Status ergeben hat. Vielmehr war der Auslöser die unverantwortliche Politik ukrainischer Regierungen seit dem Maidan-Putsch von 2014, bei dem der rechtmäßig gewählte ukrainische Präsidenten Wiktor Janukowitsch gestürzt worden war und auf den acht Jahre lang eine gewaltsame Unterdrückung ethnischer Russen im Donbass folgte.
Sikorski selbst war einer der Hauptakteure bei der Destabilisierung der Ukraine. Zusammen mit dem ebenso US-freundlichen ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Carl Bildt half er bei der Formulierung des östlichen Partnerschaftsprogramms der EU. Dieser desaströse Plan zwang Kiew, sich zwischen Brüssel und Moskau zu entscheiden. Eine Situation, der die empfindlichen ethnischen Gräben im Lande unvermeidlich in Brand setzen würde.
Sikorskis Vorschlag mit den Atomwaffen wurde von Wjatscheslaw Wolodin gekontert, dem Vorsitzenden der Staatsduma der Russischen Föderation. Wolodin ärgerte sich zu Recht über die gefährlichen Äußerungen von Sikorski und erklärte, dass sie darauf hinauslaufen, "einen nuklearen Konflikt im Herzen Europas anzuzetteln". Weiter erklärte Wolodin, dass "Sikorski weder an die Zukunft der Ukraine noch an jene von Polen denkt. Wenn seine Vorschläge verwirklicht werden, werden diese Länder zusammen mit ganz Europa untergehen."
Unausgesprochen – und wahrscheinlich von Wolodin unberücksichtigt – blieb die Tatsache, dass Russland und der Rest der Welt wahrscheinlich ebenfalls untergehen würden angesichts der harten Wahrheit, dass es so etwas wie einen begrenzten nuklearen Konflikt nicht gibt. Sobald der nukleare Geist aus seiner Flasche gelassen wurde, wird er nicht ruhen, bis die gesamte Menschheit zerstört ist. Es gab einen guten Grund, weshalb Russland im Januar 2022 die fünf nuklear bewaffneten ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen dazu drängte, gemeinsam eine Erklärung zu verabschieden, in der unter anderem erklärt wurde, dass "ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf".
Der russische Präsident Wladimir Putin versteht das. Auf einem Forum des Waldai-Klubs im Oktober 2018 sagte er, dass "jeder nukleare Angreifer wissen sollte, dass Vergeltung unvermeidlich ist und er zerstört wird. Und da wir die Opfer einer solchen Aggression sein werden, werden wir als Märtyrer in den Himmel kommen. Die Aggressoren hingegen werden einfach tot umfallen und nicht einmal mehr Zeit haben, Buße zu tun."
Der verbale Schlagabtausch zwischen Sikorski und Wolodin ist nicht das erste Mal, dass staatliche Akteure am den jeweils entgegengesetzten Enden des geopolitischen Spektrums das Gespenst von Atomwaffen im Zusammenhang mit Russlands Militäroperation in der Ukraine ins Gespräch bringen. Nach einem Besuch in der Ukraine im April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, dass "Nationen der ganzen Welt vereint in der Entschlossenheit stehen, die Ukraine in ihrem Kampf gegen die imperiale Aggression Russlands zu unterstützen", und fügte hinzu: "Die Ukraine ist überzeugt, dass sie den Krieg gewinnen kann – und wir alle hier auch."
Austin fuhr dann fort, die Hoffnung zu artikulieren, dass der Ukraine-Konflikt ein "geschwächtes" Russland hervorbringen werde, das in Zukunft nicht mehr in der Lage sein werde, ähnliche Angriffe durchzuführen. Die Politik der USA und der NATO, die Ukraine mit modernen schweren Waffen auszustatten, deren einziger Zweck darin besteht, russische Soldaten zu töten, löste eine Warnung des russischen Außenministers Sergei Lawrow vor der Gefahr eines nuklearen Konflikts inmitten des Krieges in der Ukraine aus. "Die Gefahr ist ernst. Sie ist real. Das sollte man nicht unterschätzen", sagte Lawrow russischen Medien.
Die Äußerung Lawrows führte zu einer Erwiderung Austins, der die Worte des russischen Diplomaten als "sehr gefährlich und wenig hilfreich" bezeichnete. "Niemand will einen Atomkrieg – niemand kann diesen gewinnen", erklärte Austin.
Diese Aussage von Austin muss einige im US-Verteidigungs-Establishment überrascht haben. Anfang 2020 hatten die USA eine neue Atomwaffe in den Dienst genommen, den W76-2 "Low Yield" Nuklearsprengkopf mit niedriger Sprengkraft. Damit will man potenzielle Gegner warnen, dass die Vereinigten Staaten bereit sind, auf jede Art eines "begrenzten nuklearen Engagements" zu reagieren, so wie er von Sikorski und Wolodin ins Auge gefasst wurde.
Mit einer geschätzten Sprengkraft von fünf Kilotonnen – einem Drittel der Sprengkraft der Atombombe, die 1945 auf Hiroshima abgeworfen wurde – soll die W76-2 laut Mark Esper, dem Vorgänger von Lloyd Austin als Verteidigungsminister, dem US-Präsidenten "zusätzliche Optionen in die Hand geben und ermöglichen, Konflikte zu verhindern und – wenn nötig – einen Kampf zu führen und zu gewinnen".
Es gibt nur eine einzige Nation auf der Welt, die nicht nur eine Haltung einnimmt, mit der die Möglichkeit postuliert wird, einen Atomkrieg zu führen und zu gewinnen, sondern auch Atomwaffen entwickelt hat, die genau dazu bestimmt sind, dies zu tun. Diese Nation sind die Vereinigten Staaten von Amerika.
Am 8. Dezember 2022 jährt sich zum 35. Mal die Unterzeichnung des INF-Vertrags zwischen den Vereinigten Staaten und der ehemaligen Sowjetunion, der die Abschaffung aller landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit kurzer Reichweite von 500 bis 1.000 Kilometern sowie mit einer mittleren Reichweite von 1.000 bis 5.500 Kilometern vorsah. Vor Inkrafttreten des INF-Vertrags hatten die USA und die UdSSR Tausende von nuklear bewaffneten Mittelstreckenraketen auf dem europäischen Kontinent stationiert, die sich gegenüberstanden. Ein einziger Fehler, eine Fehlkalkulation, eine falsche Einschätzung, und diese Raketen wären abgefeuert worden, was einen garantierten Eskalationszyklus zur Folge gehabt hätte, der zur nuklearen Vernichtung der Menschheit auf dem gesamten Planeten geführt hätte.
Trotz der harschen Rhetorik des Kalten Krieges, als Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion noch als ein "Reich des Bösen" betitelt hatte und die Vereinigten Staaten in Moskau den "Feind Nummer Eins" gesehen hatten, waren die damaligen politischen und militärischen Verantwortlichen beider Nationen in der Lage gewesen, den nötigen Mut und Weitblick aufzubringen, um ein Abkommen zur Rüstungskontrolle auszuarbeiten, das dabei half, ihre jeweiligen Nationen vom nuklearen Abgrund wegzuziehen.
Im Jahr 2019 zogen sich die USA unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump ohne Not aus dem INF-Vertrag zurück und setzte damit ein neues Wettrüsten in Gang, durch das es wahrscheinlich wird, dass der europäische Kontinent in Bälde wieder Heimat einer neuen Generation – noch tödlicherer – nuklearer Raketen sein wird.
Heute, wo sich die Beziehungen zwischen den USA und Russland auf einem historischen Tief befinden, ist es höchste Zeit für die politischen und militärischen Verantwortlichen beiden Nationen, wieder einmal das Triviale hinter sich zu lassen und sich auf das zu konzentrieren, was für die Erhaltung der Menschheit, wie wir sie kennen, wesentlich ist: ein neuer INF-Vertrag, der, wenn er umgesetzt wird, Europa und dem Rest der Welt eine Atempause verschafft, damit die Gefahr eines nuklearen Konflikts reduziert wird.
Die USA und Russland behaupten, eine gemeinsame Überzeugung zu haben, nämlich jene, dass ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und daher niemals geführt werden sollte. Durch ihre Taten und Worte scheint es jedoch, dass keine der beiden Seiten das Versprechen, das sie Anfang dieses Jahres zusammen mit Frankreich, Großbritannien und China bei der UN unterschrieben hatten, vollständig verstanden haben.
Die Welt steht wieder einmal an der Schwelle zum Undenkbaren – einem Atomkrieg in Europa, der am Ende den gesamten Planeten erfassen würde. Unsere jeweilige Staatsführung muss den langen, harten Prozess der Abrüstung beginnen, der erforderlich ist, um die Theorie in die Realität umzusetzen. Wir haben es schon einmal erreicht, und ich glaube daran und vertraue darauf, dass wir es wieder erreichen können.
Übersetzt aus dem Englischen. Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Telegram folgen.