Am Sonntag wird in Frankreich ein neues Parlament gewählt. Doch das Land ist gespalten und die Unzufriedenheit groß. Ein Bündnis linker Parteien, das von dem französischen Linksaußen-Politiker Jean-Luc Mélenchon zusammengebracht wurde, liegt in den Umfragen im Aufwind. Das Wahlplakat "Mélenchon Premierminister" wird von den Gegnern nicht mehr belächelt. Die Umfragen deuten darauf hin, dass sein Bündnis zu Macron aufgeholt hat und Anspruch auf das Amt haben könnte. Mélenchon bezeichnet das neue "Nupes" genannte Bündnis als die Volksunion. Sie vereint seine Partei La France Insoumise (Das ungebrochene Frankreich), Sozialisten, Kommunisten und Grüne.
"Es ist erstaunlich, so inspirierend und motivierend. Der gesamte linke Flügel steht hinter Mélenchon", sagte Michael Gorre, ein 45-jähriger Informatiker, der letzte Woche an einer Pariser Kundgebung der Koalition teilnahm. "Es ist ein gutes Gefühl, jemanden zu haben, der über konkrete Dinge spricht." Macron hat indes klargestellt, dass er allein den Premierminister ernennt, obwohl dessen Wahl in der Praxis vom Wahlergebnis abhängt, das erst in der zweiten Runde am 19. Juni feststehen wird. Das neue Linksbündnis ist enorm im Aufwind. Erhielte es eine Mehrheit, wäre Macron faktisch gezwungen, einen Premier dieses Lagers zu ernennen. Sollte Nupes also eine Mehrheit erlangen, würde der Präsident wahrscheinlich jemanden aus der Koalition wählen, auch wenn das nicht unbedingt Mélenchon sein wird.
Umfragen lassen zwar deutliche Stimmverluste für Macron erwarten, zumal er nicht mehr wie 2017 Hoffnungsträger, sondern von fünf Jahren Amtszeit voller Krisen deutlich gezeichnet ist. Doch letztlich gehen die Umfrageinstitute davon aus, dass Macrons Lager zumindest eine relative Mehrheit im Parlament erneut schaffen wird. Vergeben werden die 577 Sitze nach einem komplizierten Mehrheitswahlrecht. Ins Gewicht fallen am Ende nur die Stimmen für den Gewinner im jeweiligen Stimmbezirk.
Bei den Präsidentschaftswahlen im April hat Macron mit Ach und Krach ein zweites Mandat errungen und strebt nun eine absolute Mehrheit an – 289 Sitze in der 577 Sitze zählenden Nationalversammlung, dem Unterhaus – um zügig Gesetze zu verabschieden. Zu den Gesetzen, die er plant, gehört die unbeliebte Anhebung des Rentenalters von 62 auf 65 Jahre. Mélenchon möchte es hingegen auf 60 Jahre senken. Bei der Präsidentschaftswahl kam er in der ersten Runde auf beachtliche 22 Prozent der Stimmen, flog damit aber als Drittplatzierter raus. "Wählt mich zum Premierminister", wirbt Mélenchon seither. Der kühne Versuch des 70-Jährigen, Regierungschef zu werden, ist symptomatisch für die zerrüttete politische Landschaft Frankreichs.
Traditionelle Volksparteien wie die Sozialisten und die rechtskonservativen Republikaner sind nach den Verlusten bei früheren Wahlen aus dem Blickfeld der Wähler gerutscht. Es bildeten sich drei Blöcke heraus: Ein linker Block, ein weit rechter Block und die Zentristen von Macron, die vor "den Extremen" warnen. Die konservativen Républicains, einst Volkspartei und noch stärkste Oppositionskraft in der Nationalversammlung, müssen mit herben Verlusten rechnen. Die zweite traditionelle Volkspartei der Sozialisten, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, hat sich im Linksbündnis Mélenchon untergeordnet und dabei selbst einer eurokritischen Linie zugestimmt, die den Verstoß gegen EU-Regeln billigt. Doch auch von respektierten Ökonomen wie Thomas Piketty erhält Nupes Zuspruch.
Das Bündnis liegt in den Umfragen gemeinsam mit Macrons Zentristen an der Spitze. In dieser Woche lag Nupes in einer Umfrage sogar an erster Stelle, das allerdings innerhalb der Fehlermarge. Le Pen, die in der Stichwahl gegen Macron unterlag, kam an dritter Stelle. Die rechtsgerichtete Le Pen ist sich darüber im Klaren, dass ihre Partei Rassemblement National unter dem derzeitigen Wahlsystem nicht mit Mélenchons Bündnis konkurrieren kann. In ihren Wahlaufrufen bittet Le Pen ihre Anhänger, ihrer Partei zu helfen, bei den "Wahlen der letzten Chance" so viele Abgeordnete wie möglich zu gewinnen, um den Weg des französischen Präsidenten zu uneingeschränkter Macht zu blockieren.
Im Gegensatz zu Mélenchons Bewerbung um das Amt des Premierministers besteht Le Pens Ziel darin, erstmal eine Parlamentsfraktion zu bilden, um mehr Redezeit und andere Vorteile zu erhalten. Dazu braucht sie mindestens 15 Abgeordnete. Ihre Partei hatte bei den Wahlen 2017 acht Sitze gewonnen.
"Jean-Luc Mélenchon wird niemals Premierminister werden. Er belügt die Franzosen ... ein paar Tage vor seiner Pensionierung", twitterte Le Pen während einer Wahlkampfreise am Donnerstag in der südlichen Küstenstadt Agde. Sie bezog sich damit auf seine Entscheidung, nicht zu versuchen, seinen Parlamentssitz zu erneuern, während sie dafür kämpft, den ihren zu behalten.
Mélenchon ist ein erfahrener Politiker mit rhetorischer Begabung, seine Appelle für mehr soziale Gerechtigkeit sind einer der Anziehungspunkte für zahlreiche Wähler, wie Christelle Baker, 32, die sein Bündnis als Anlaufstelle für ihren autistischen Bruder sieht.
"Nupes steht für soziale Gerechtigkeit und ... Themen wie das Gesundheitssystem, die Umwelt, die Bildung oder die Situation der Behinderten", sagte Baker auf der Pariser Kundgebung in einem vollen Theater. "Wir werden vielleicht nicht gewinnen, aber wir können eine große parlamentarische Fraktion haben. Wir können ein gewichtiges Wort mitreden."
Mélenchon Bündnis verspricht, die Mindestlöhne sowie die Gehälter in einer Vielzahl von Sektoren anzuheben und Flughäfen sowie Autobahnen zu verstaatlichen. Er wendet sich gegen den "Neoliberalismus und die finanzialisierte Wirtschaft".
"Ausländische Kommentatoren", sagte er letzte Woche bei einer Veranstaltung in Paris, "wenn Sie wissen wollen, was Frankreich ist, dann ist es dies: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und soziale Wohlfahrt."
Für Wirtschaftsminister Bruno Le Maire ist Mélenchon hingegen der "gallische Chávez". Diese Anspielung auf den ehemaligen venezolanischen Staatschef Hugo Chávez, der für seine sozialistische Revolution bekannt ist, ist bei dem Mann, der Kontroversen zu lieben scheint, hängen geblieben. Mélenchon löste seinen jüngsten Aufruhr aus, als er am vergangenen Wochenende twitterte, dass "die Polizei tötet". Zuvor war eine Beifahrerin in einem Auto gestorben, das Polizisten auf Fahrrädern unter Beschuss genommen hat, als es sich weigerte, für eine Kontrolle anzuhalten.
Macron bezeichnet Mélenchon seinerseits als extrem. "Nichts könnte gefährlicher sein, als die von den Extremen vorgeschlagene französische UNOrdnung zur weltweiten UNOrdnung hinzuzufügen", wurde er in der französischen Presse bei einem Besuch in der Region Tarn am Donnerstag zitierte. Das Ergebnis der Parlamentswahl entscheidet maßgeblich darüber, welchen Kurs Frankreich in den kommenden Jahren nehmen wird.
Kann Macron mit seinem Kabinett in Zukunft quasi durchregieren? Zwingen ihn die Machtverhältnisse dazu, Premier und Regierung aus einem anderen Lager zu bilden? Oder wird das Parlament es ihm zumindest unbequem machen?
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(ap/ rt de)