Schwere militärische Verluste im Donbass lassen die Einheit der Ukraine bröckeln

Wladimir Selenskij bekommt Gegenwind zu spüren. Die jüngsten Vorstöße der russischen Armee, haben von der ukrainischen Gesellschaft ihren Tribut gefordert, und sie sind ein schwerer Rückschlag für die vom Westen unterstützte Regierung, die mit Durchhalteparolen die Einheit der Ukraine beschwört.

Eine Analyse von Wladislaw Ugolnij

Die Ukrainer scheinen angesichts der militärischen Niederlagen im Donbass und der Wirtschaftskrise im Rest des Landes die Einheit zu verlieren. Die Welle des Patriotismus, die aufkam, als die russische Armee vor Kiew stand, hat sich jetzt, in den letzten Maitagen, offenbar abgeflacht. Gleichzeitig scheint der nationale Konsens, dass sich alle politischen Gruppierungen hinter der ukrainischen Armee versammeln müssten, anstatt gegen Präsident Wladimir Selenskij zu opponieren, in Luft aufgelöst zu haben. Offensichtlich steckt die vom Westen unterstützte Staatsführung in Kiew jetzt in großen Schwierigkeiten.

Der bis zum 3. April abgeschlossene Rückzug der russischen Truppen aus den Gebieten um Kiew, Tschernigow und Sumy wurde als bedeutender Sieg der ukrainischen Behörden besungen. Dieser Rückzug des Bedrohungspotenzials von der Hauptstadt weg ermöglichte es diplomatischen Institutionen, nach Kiew zurückzukehren – deren Personal sich zuvor im nahen Polen in Sicherheit gebracht hatte. Auch konnten Besuche ausländischer Delegationen an den Schauplätzen vergangener Kämpfe organisiert, und die NATO-Staaten davon überzeugt werden, dass die Ukraine dem Krieg gegen Russland standhalten würde, wenn es nur ausreichend mehr schwere Waffen erhielte.

All dies wurde den Ukrainern als Grundlage für die Vorbereitung einer Gegenoffensive in Charkow, Cherson und im Donbass präsentiert. Darüber hinaus kam wieder ein beliebtes Zuckerbrot auf den Tisch: Das Versprechen eines raschen Beitritts zur Europäischen Union, unter Umgehung zwingender Bedingungen, als Lohn für das Heldentum und für die Ukraine, die als "Bollwerk Europas das Banner der Freiheit" trägt. Die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft war zuversichtlich: Die russische Armee war aufgehalten worden. Jetzt müsse man nur auf westliche Hilfe warten und es werde möglich werden, sich für 2014 zu revanchieren, als Moskau die Krim wieder in die Russische Föderation eingliederte.

Inzwischen floss ausländische Hilfe ins Land, die der Ukraine jedoch keine Erleichterung brachte. Hilfe hat sich nur bei der Unterstützung von ukrainischen Flüchtlingen in jenen Nachbarländern als wirksam erwiesen, die frei von der Korruption und der Vetternwirtschaft der Ukraine sind. In Bezug auf die militärische Komponente stellte sich Ende Mai heraus, dass die angeforderten Artillerie- und Luftverteidigungssysteme nicht ausreichen, um Russland zu besiegen und dass die Armee auf eine Million Mann aufgestockt werden müsste.

Diese Aufstockung sollte durch eine Mobilisierung und durch die Eingliederung von Brigaden der Territorialverteidigung in die regulären Streitkräfte der Ukraine erfolgen. Angesichts der Wirtschaftskrise, könnten so noch mehr ukrainische Männer an die Front geschickt werden.

Infolgedessen hat die Kiewer Regierung damit begonnen, Männer auf den Straßen der von ihr kontrollierten Städte festzunehmen und ihnen Einberufungsbescheide auszuhändigen. Unterdessen finden sich westukrainische Einheiten der Territorialverteidigung, die ursprünglich nur Waffen zum Schutz ihrer Dörfer in den Karpaten angefordert hatten, stattdessen unter dem Hammer der russischer Luftwaffe und Artillerie im östlichen Donbass wieder.

Auf diese Weise löste sich in der ukrainischen Gesellschaft der Glaube an einen schnellen Sieg in Luft auf. Alexei Arestowitsch, ein Top-Berater im Präsidialamt des ukrainischen Präsidenten, der irgendwie zum wichtigsten Militärexperten in der Ukraine geworden ist, sowie Blogger, die mit dem nationalistischen Asow-Bataillon in Verbindung stehen, sprechen bereits von einem schwierigen Juni und Juli. Auch Selenskij selbst hat seinen Optimismus verloren. Aber was ist der Grund dafür?

Seit der zweiten Aprilhälfte konzentriert sich die russische Armee auf mehrere Ziele:

  1. Stellungen rund um Isjum erweitern und Slawjansk abschneiden
  2. Durchführung einer Offensive von Kupjansk entlang des Oskol-Stausees nach Swjatogorsk und Liman
  3. Befreiung des Gebietes entlang der Linie Rubeschnoje – Sewerodonezk – Lissitschansk
  4. Durchbrechen der befestigten Verteidigungsformationen im Gebiet Popasnaja, um in den Raum der Operationen einzudringen
  5. Durchbrechen der befestigten Verteidigungsformationen im Gebiet von Awdejewka und Umgebung
  6. Errichtung der Kontrolle über Mariupol

Bis Ende Mai waren die meisten dieser Aufgaben abgeschlossen. Den größten Widerstand leistete die ukrainische Armee in der Gegend um Isjum, wodurch die Front 20 Kilometer von Slawjansk entfernt gehalten werden konnte. Dies konnte jedoch nur erreicht werden, indem die ukrainische Armee den Großteil ihrer Reserven zwischen Isjum und Slawjansk konzentrierte, wodurch es unmöglich wurde, diese an anderen Fronten einzusetzen.

Etwas weiter östlich stieß die russische Armee rund 80 Kilometer am Oskol-Stausee entlang vor und befreite am 27. Mai das Bezirkszentrum Liman. Nun ist Slawjansk nicht nur von einem Angriff aus Nordwesten, sondern auch von Nordosten her bedroht. Der ukrainischen Armee verblieben somit nur noch Stellungen im Gebiet Swjatogorsk und im Gebiet Charkow, entlang dem linken Ufer des Flusses Sewerski Donez, der für diesen Einsatzort von entscheidender Bedeutung ist.

Dieser Erfolg wäre ohne siegreiche Aktionen in der Nähe von Sewerodonezk unmöglich gewesen. Dort wurden das Dorf Kreminna und der nördliche Teil der Stadt Rubeschnoje kampflos besetzt. Die Kämpfe dauerten einen Monat, bis sich die Ukrainer am 12. Mai aus den südlichen Vororten zurückzogen und die Brücke über den Fluss Borowaja hinter sich sprengten. Der Erfolg in Kreminna ermöglichte es, ukrainische Armeestellungen im Gebiet Liman von Osten her anzugreifen und die Umgebung von Sewersk, einem wichtigen Logistikzentrum, in Schussweite zu bringen.

Trotz des ständigen Vormarsches blieb die russische Armee nicht ohne Niederlagen. Ein Versuch, den Fluss Sewerski Donez in der Nähe von Belogorowka zu überqueren, um Lissitschansk einzukreisen, schlug fehl und führte zum Verlust eines Bataillons. Diese erfolgreiche Abwehr der Ukrainer verlängerte das Leben der ukrainischen Garnison in Sewerodonezk und Lissitschansk um einen Monat. Aber nun sehen diese Soldaten aufgrund eines Durchbruchs im Süden, in Popasnaja, einer Niederlage entgegen.

Popasnaja ist mit 20.000 Einwohnern ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt im Donbass. Leider haben die Ukrainer seit 2014 die Stadt in ein solide befestigtes Gebiet verwandelt, erleichtert durch das Vorhandensein mehrstöckiger Gebäude im Stadtzentrum, großer Depotgebäude der Eisenbahn und ihre Lage auf einem Hügel. Die Kämpfe um Popasnaja dauerten mehr als zwei Monate und führten zur vollständigen Zerstörung der Stadt. Nach dem Sieg in Popasnaja führte die russische Armee eine erfolgreiche Offensive durch, brachte die Autobahn Bachmut – Lissitschansk in Schussweite und schnitt die Garnisonen in Sewerodonezk und Lissitschansk effektiv von der Verbindung zum Rest der Ukraine ab.

Außerdem ermöglichte es der Sieg in Popasnaja, eine Offensive auf das wichtige Logistikzentrum Bachmut zu starten und die ukrainischen Streitkräfte zum Rückzug aus Swetlodar zu zwingen, wobei im Wesentlichen ein Streifen solider Befestigungen am sogenannten Swetlodar-Bogen kampflos aufgegeben wurde. Im Gebiet Awdejewka waren die Erfolge der russischen Armee nicht so bedeutend wie in Popasnaja, aber die ukrainischen Streitkräfte ziehen sich allmählich auch aus diesem wichtigen Gebiet zurück.

Die Kontrolle über Awdejewka gibt der ukrainischen Armee die Möglichkeit, Donezk mit Artillerie zu beschießen, sowie die Hoffnung, eine Gegenoffensive auf Jasinowataja und Donezk zu starten. Die Armee der Ukraine hat hier so bedeutende Kräfte konzentriert, dass die Einheiten der DVR nicht dazu kommen, weiter vorzurücken, selbst nachdem der Feind erfolgreich durch Artillerieangriffe geschwächt worden ist. Zumal er die Stellungen buchstäblich mit neu nachrückenden Kräften überschwemmt. Aber selbst unter solchen Bedingungen ist es gelungen, die Autobahn Awdejewka – Konstantinowka zu durchtrennen und die feindliche Nachschublinie empfindlich zu treffen.

Aber der wichtigste russische Sieg fand im Süden statt, in der Hafenstadt Mariupol, die gleich zu Beginn des Krieges eingekesselt worden war. Dort wurden die kampfbereitesten und motiviertesten Einheiten der ukrainischen Armee und der Nationalgarde umzingelt und gefangen genommen. In erster Linie sprechen wir hier über das neonazistische Asow-Regiment, dessen Rückgrat aus rechtsextremen Militanten bestand. Neben der Indoktrinierung der eigenen Mitglieder war Asow jene Kraft, die ultrarechte Ideen innerhalb der gesamten ukrainischen Armee verbreitete.

Dies geschah während Unteroffizierskursen, wo neben militärischem Wissen auch auf die Vermittlung der neonazistischen Ideologie Wert gelegt wurde. Dies ist einer der Gründe für das Abdriften der ukrainischen Armee in die Selbstüberschätzung. Zwar mussten die Streitkräfte der Ukraine 2014 die Krim kampflos aufgeben, nun aber konnten sie angeblich die Russen aus Kiew zurückdrängen.

Die Garnison in Mariupol, die sich später auf das Fabrikgelände Asow-Stahl zurückzog, wurde sowohl in der Ukraine als auch weltweit als Beispiel für die Widerstandsfähigkeit ukrainischer Soldaten bewundert. Alle erwarteten, dass diese Neonazis, wie ihre Helden in der Waffen-SS, bis zum bitteren Ende standhaft kämpfen würden. Die Ukraine glaubte an sie und die Russen waren gezwungen, erhebliche Kräfte in der Stadt zu binden.

Staatsoberhäupter, der Papst und sogar die Gewinner des European Song Contest (ESC) sprachen sich zu Gunsten dieser Männer in Mariupol aus. Im letzteren Fall erwies sich das jedoch als äußerst peinlich: Kaum hatte die Ukraine den Gesangswettbewerb gewonnen, kapitulierte die Garnison von Asow-Stahl, als hätte sie den Befehl gehabt, bis zum Ende des ESC-Finales durchzuhalten.

Die Wandlung der Asow-Kämpfer von brutalen rechtsextremen Militanten zur Personifizierung der ukrainischen Resilienz war lächerlich. Die Berichterstattung in den westlichen Medien war ebenfalls lächerlich und man bestand darauf, dass die Truppe "evakuiert" worden sei, und nicht kapituliert hatte und gefangen genommen wurde. Selbst die ukrainische Führung benahm sich wie ein Haufen Komödianten, indem sie behauptete, die "Kapitulation" sei eine "Sonderoperation" der ukrainischen Sonderdienste. Im russischen Internet machten daraufhin Witze die Runde, wie jener, in dem davor gewarnt wurde, dass Asow in dem Untersuchungsgefängnis von Rostow am Don einen Stützpunkt eingerichtet habe und ein Angriff auf das naheliegende örtliche Gerichtsgebäude unmittelbar bevorstehe.

Die Situation rund um die ukrainische Armee, welche von den Russen eine Lektion in menschenwürdigem Umgang mit Kriegsgefangenen erteilt bekam, war jedoch alles andere als ein Scherz. Das Schlimmste dabei ist, dass sie diese Lektion während des Zusammenbruchs der Frontlinien in der Gegend von Liman, Popasnaja und Sewerodonezk erhalten hat. Und wenn selbst Mitglieder von Asow sich, unter Kultivierung militärischer Ehre, gefangen nehmen ließen, dann könnte sich doch auch das Personal der Garnisonen, die sich in zukünftigen "Kesseln" oder Einkreisungen wiederfinden, guten Gewissens ergeben.

Dies bedroht jedoch die ukrainische Strategie, die Städte des Donbass in Festungen zu verwandeln, wo sich große Industrieanlagen befinden. Aufgrund der wirtschaftlichen Besonderheiten dieser Region, gibt es solche Komplexe in praktisch jeder Stadt, zumal sie zu Sowjetzeiten, in Erwartung eines Atomkrieges, solide gebaut worden waren. Es ist möglich, in diesen Anlagen über einen langen Zeitraum eine Verteidigung aufrechtzuerhalten – Asow-Stahl ist ein Präzedenzfall dafür. Aber sich so zu verkriechen ist selbstmörderisch, da den ukrainischen Garnisonen schnell der Zugang zu Proviant, Nahrung, Medizin und Munition entzogen würde. Und jetzt ist die ukrainische Führung unsicher darüber, ob ihre Armee überhaupt noch bereit ist, bis zum bitteren Ende durchzuhalten, nachdem die besten ukrainischen Einheiten sich bereits geweigert haben, dies zu tun.

Asow-Stahl, wo die Kämpfer zu Nationalhelden wurden, nur um bald darauf in Gefangenschaft zu gehen und mit der Aussicht auf ein Militärtribunal konfrontiert zu werden, war zweifelsohne ein Skandal. Und dieser wird jetzt noch ergänzt durch Appelle verschiedener Einheiten der Streitkräfte der Ukraine, denen zum Beispiel Waffen aus dem Ersten Weltkrieg geschickt werden – Maxim-Maschinengewehre –, um es mit fortschrittlichen russischen Panzern und der Luftwaffe aufzunehmen. Was hindert sie unter diesen Umständen daran, ihre Positionen aufzugeben, ohne sich als Deserteure zu fühlen?

Die ukrainische Gesellschaft hat schwere militärische Niederlagen erlitten, und ihre Motivation, den Krieg fortzusetzen, erschöpft sich zusehends. Die Ukraine hat allein in Mariupol schon mehr als 5.000 ukrainische Kriegsgefangene hinnehmen müssen, während in Sewerodonezk und Lissitschansk sich bereits neue Einkesselungen abzeichnen.

Die ukrainische Regierung steht nun vor einer Wahl: Den Donbass aufgeben, die Armee retten und mit einer Revolte nationalistisch-patriotischer Kräfte konfrontiert werden, die eine Aufgabe des Donbass als Hochverrat betrachten. Oder bis zum letzten Soldaten um den Donbass kämpfen, dadurch die Armee verlieren und wenig später den Donbass trotzdem aufgeben müssen, gefolgt von anderen Gebieten.

In Wirklichkeit ist die Lage düster: Selenskij verliert durch die erlittenen Niederlagen die Fähigkeit, seine westlichen Verbündeten weiter über die Kampfbereitschaft der Ukraine zu belügen. Denn welchen Sinn macht es für Großbritannien oder die Vereinigten Staaten, der Ukraine die fortschrittlichsten Waffen zu schicken, wenn sie umzingelt ist und diese Waffen in die Hände der russischen Armee fallen, wie es bereits mit den MANPADS und gepanzerten Fahrzeugen geschehen ist?

Wladislaw Ugolnij ist ein russischer Journalist aus Donezk

Übersetzt aus dem Englischen.

Mehr zum Thema - Ukraine, Deutschland und die EU: Der Sachstand