Der Absolvent der Moskauer Diplomatenakademie, Politikwissenschaftler und Buchautor Maxim Grigorjew leitet seit 2008 die Stiftung zur Erforschung von Demokratieproblemen. Außerdem ist er Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Seit dem Maidan-Putsch im Jahr 2014 sammelt der 46-Jährige Daten über Verbrechen des ukrainischen Nationalismus im Donbass. Im Jahr 2016 veröffentlichte er das Buch "Gewöhnlicher Faschismus: Kriegsverbrechen der ukrainischen Sicherheitskräfte (2014–2016)".
In Anlehnung an den berühmten Dokumentarfilm "Gewöhnlicher Faschismus" (1965) des sowjetischen Filmregisseurs Michail Romm hat Grigorjew auf mehr als 400 Seiten Hunderte Fälle von Tötungen, Folter, Misshandlungen und Zerstörungen ziviler Infrastruktur und sonstige Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Im Jahr 2020 schrieb er als Co-Autor ein weiteres Buch zum gleichen Thema mit dem Titel "Ukrainische Kriegsverbrechen und Menschenrechte" (Auszüge in deutscher Sprache hat vor Kurzem das Internet-Magazin Rubikon veröffentlicht).
Grigorjew steht in Kontakt mit internationalen Gremien wie der OSZE, dem UN-Menschenrechtsrat sowie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Diese Aktivitäten bleiben natürlich von der ukrainischen Seite nicht unbemerkt. So warf ihm am 22. März das englischsprachige Portal neweuropeans.net Ukrainophobie und Verbreitung von Propaganda und Fake News vor.
Seit Beginn der russischen Militäroperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine und zum Schutz des Donbass reiste Grigorjew wieder ins Kriegsgebiet und setzte seine Arbeit als Datensammler fort. Die Zwischenergebnisse stellt er auf seinem Telegram-Kanal ins Netz.
Am 11. März riefen Maxim Grigorjew und andere gesellschaftlichen Aktivisten das sogenannte "Internationale Gesellschaftliche Tribunal für die Ukraine" ins Leben, dessen Vorsitzender er auch wurde. RT DE sprach mit dem Menschenrechtler über die Arbeit des Gremiums.
RT: Vertreter welcher Länder beteiligen sich an der Arbeit des Internationalen Gesellschaftlichen Tribunals (IGT)? Handelt es sich dabei um Privatpersonen oder um Mitglieder zum Beispiel einer Menschenrechtsorganisation?
Maxim Grigorjew: "Es gibt verschiedene Leute, es gibt sowohl private Personen als auch Leute, die Mitglied in einer Menschenrechtsorganisation sind. Sie kommen aus verschiedenen Ländern und ihre Zahl wächst. Es gibt Bürger aus den USA und europäischen Ländern – Frankreich, Deutschland, Belgien, Polen und einer Reihe weiteren sowie GUS-Ländern. Das ist der Kreis ehrlicher Menschen, die bereit sind darüber zu sprechen, was passiert. Es sind ziemlich viele."
RT: Die Täter werden offenbar nach russischem Recht verurteilt. Wie verhält sich das IGT zum russischen Recht?
Maxim Grigorjew: "Möglicherweise werden manche Gerichtsverfahren auf dem Territorium der Donezker und Lugansker Volksrepubliken (DVR und LVR) stattfinden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass früher oder später das Volk der Ukraine – der Gebiete, die zu verschiedenen Zeiten Teil der Ukraine waren – seinerzeit eigene Bewertungen über die verbrecherischen Handlungen derjenigen gibt, die für die Kriegsverbrechen verantwortlich sind und dem Kiewer Regime selbst. Was unsere Kooperation mit den Justizsystemen in verschiedenen Ländern angeht, man geht davon aus, dass die Mitglieder des Tribunals die Materialien, die wir alle bekommen, an ihre nationalen Justizorgane weiterleiten. Wir zum Beispiel übergeben unsere Materialien an das Ermittlungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation."
RT: Auf welche historischen Präzedenzfälle beziehen Sie sich in Ihrer Arbeit?
Maxim Grigorjew: "Wir orientieren uns an der Arbeit des Nürnberger Tribunals, wobei wir als gesellschaftliches Tribunal eine andere Spezifik haben. Wir können Verbrecher nicht festnehmen und bestrafen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Fakten zu finden, sie in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und sie an die Strafverfolgungsorgane jener Länder, aus denen unsere Mitglieder stammen, zu übergeben."
RT: Welche Materialien werden als Beweismittel für Straftaten herangezogen? Können Sie zum Beispiel auf Interviews russischer Medien mit den Augenzeugen der Verbrechen zurückgreifen?
Maxim Grigorjew: "Ja, ich denke, solche Daten kann man für die Eröffnung der Strafverfahren nutzen. Was von uns gesammelte Materialien angeht – wir machen alles gründlich. Niemand versteckt bei uns ihre Namen – wir geben Namen, Nach- und Vaternamen, Adresse an. Leute, die wir befragen, sind entweder unmittelbare Opfer, die unter Verbrechen ukrainischer Streitkräfte gelitten haben oder Zeugen, die sie mit eigenen Augen gesehen haben. Jeder, der das möchte, kann, wenn nötig, sie erneut befragen, darunter auch ausländische Medien.
Leider wollen das die ausländischen Medien aber nicht. Wir hatten Zeugen, die sich auf dem ukrainisch kontrollierten Territorium aufgehalten haben. Ausländische Medien filmten jene Bilder, die sie brauchten und wenn diese Leute versuchten, über die ukrainischen Verbrechen zu erzählen, stoppten die Medien ihre Aufnahmen. Sie haben nicht nur diese Informationen vor der Öffentlichkeit zurückgehalten, sie weigerten sich, mit diesen Menschen zu arbeiten."
RT: Wie definieren Sie ein Kriegsverbrechen?
Maxim Grigorjew: "Wir stützen uns auf die Definition des internationalen humanitären Rechts. Dazu zählen Tötungen der zivilen Bevölkerung, Raubüberfälle auf Zivilisten, dazu zählen Vernichtung der Wohnhäuser, Folter – also all das, was wir alle in diesen acht Jahren des Bürgerkriegs in der Ukraine sehen konnten und in den letzten Monaten das, was in den Städten wie Mariupol passiert ist, als ukrainische Streitkräfte massenhaft Kriegsverbrechen begangen haben."
RT: Wer sollte Ihrer Meinung nach als Kriegsverbrecher betrachtet werden? Befehlshaber beim Militär oder diejenigen, die ihre Befehle ausführen?
Maxim Grigorjew: "Beide. Allein unsere Organisation hat Hunderte von Opfern und Zeugen von Straftaten befragt. Hinzu kommen Daten von Ermittlungsbehörden der Russischen Föderation, der DVR und der LVR. Menschen erzählen uns, wie Asow-Kämpfer Zivilisten töteten, ihre Kinder und Verwandten vor ihren Augen erschossen. Daher sollte jeder zur Verantwortung gezogen werden. Was Asow betrifft, so habe ich letztes Jahr die russische Generalstaatsanwaltschaft gebeten, dieses Regiment als extremistische Terrororganisation anzuerkennen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass alle Mitglieder von Asow Kriminelle sind. Was die ukrainische Armee betrifft, so handelt es sich um bestimmte Kriminelle. Es gibt eine ganze Reihe von Verbrechen, die nicht nur von Kommandanten, sondern auch von einfachen ukrainischen Soldaten begangen wurden.
All dies muss untersucht werden. Frauen und Kinder wurden von bestimmten Soldaten getötet, nicht von Kommandanten. Dies geschah allerdings auf direkten Befehl der militärischen und politischen Führung der Ukraine. Ich habe keinen Zweifel daran, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij der Hauptkriegsverbrecher ist. Die Bewohner von Mariupol und vielen anderen Orten in der Ukraine denken genauso. In den Interviews, die wir führen, sagen die Ukrainer unverblümt, dass Selenskij und die militärische Führung gleichermaßen Verbrecher sind. Sie sollten vor Gericht gestellt werden."
RT: Wie würden Sie das ukrainische Regime beschreiben? Wenn es sich um Faschismus handelt, woran machen Sie fest, dass dies Faschismus ist?
Maxim Grigorjew: "Was das Kiewer Regime anbelangt, so sind hier verschiedene Definitionen möglich, aber es ist klar, dass dieses Kiewer Regime nichts mit Demokratie zu tun hat, sondern ein totalitäres Regime ist, in dem es lediglich einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Strömungen gibt. Aber alle diese Strömungen predigen gleichermaßen Hass gegen Russen und russischsprachige Menschen, die nicht unbedingt Bürger Russlands sind, sondern auch gegen die Menschen, die im Südosten des Landes leben.
In all den acht Jahren [nach dem Maidan-Putsch im Jahr 2014, Anm. der Red.] hat die Ukraine dieselben Methoden der Machtausübung angewandt, auch wenn es verschiedene Präsidenten gab, erst Poroschenko, dann Selenskij. Folter, Mord, das Verschwinden von Menschen, außergerichtliche Ermittlungen gegen Andersdenkende, Zensur, Schließung der Medien, Tausende von politischen Gefangenen, Menschen, die einfach wegen ihrer Zivilcourage getötet wurden – all dies sind unmittelbare Anzeichen für ein totalitäres Regime.
Wenn wir über den ukrainischen Nationalismus sprechen, dann war das immer eine faschistische Art von Nationalismus. Und in den 20er- und 30er-Jahren haben die Ukrainer das nicht einmal versteckt. Ukrainische Nationalisten schworen wiederholt Eid auf Adolf Hitler, sie fühlten sich verbunden genug mit dieser faschistischen Idee.
Was das Kiewer Regime jetzt tut, ist eine Form von Faschismus und Nazismus. Es ist eine erstaunliche Kombination von Geschichten über die europäische Demokratie, die europäischen Werte und die Tatsache, dass Kiew Teil der Europäischen Union sein will, während es gleichzeitig direkte Massenverbrechen gegen seine Bürger und Verstöße gegen europäische Werte gibt.
Das ist übrigens das, was wir jetzt in den westlichen Ländern selbst erleben. Praktisch das meiste von dem, was sie gesagt haben, die meisten ihrer Werte, verletzen sie jetzt in Bezug auf die russischen Bürger. Dies gilt für Werte, die für den westlichen Kapitalismus unantastbar sind, wie etwa das Privateigentum. Wie Sie wissen, wird das Privateigentum von im Ausland lebenden russischen Staatsbürgern eingefroren und ihnen in Zukunft entzogen."
RT: Glauben Sie, dass Russland die gesamte Ukraine befreien wird? Darüber gibt es derzeit viele Spekulationen. Ist eine Wiederholung der Mariupol-Geschichte in, sagen wir Lwow, möglich, indem Swoboda und andere lokale paramilitärische Nationalisten anstelle von Asow Widerstand leisten?
Maxim Grigorjew: "Ich denke, die nahe Zukunft wird zeigen, was passieren wird und wie. Wenn es in irgendeinem ukrainischen Ort terroristische Militärgruppen wie die Terrorgruppe Asow gibt, die die örtliche Bevölkerung terrorisieren, sich hinter dem Rücken von Frauen und älteren Menschen verstecken und während der Kampfhandlungen Kriegsverbrechen begehen, ist die Wiederholung des Szenarios von Mariupol durchaus möglich.
Wir sind uns sicher, dass das, was sich in Mariupol vollzogen hat, nicht auf Initiative konkreter Menschen geschah. Das fand praktisch überall und massenhaft statt. Wir kommen daher zu dem Schluss, dass dies auf Geheiß der militärischen und politischen Führung der Ukraine gemacht wurde – Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu nutzen und nicht einmal zu versuchen, sie zu retten. Und das ist natürlich ein Kriegsverbrechen."
Mehr zum Thema - Die Post-Ukraine