Eine Analyse von Peter Reinert
In den ersten Gesprächsrunden der Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland spielte auch die Halbinsel Krim eine Rolle. Moskau forderte von Kiew die Anerkennung der Krim als Mitglied der Russischen Föderation. Doch Kiew weigerte sich kategorisch, ein Territorium der Ukraine abzugeben. Ende März erklärte der Präsident Wladimir Selenskij, dass die Ergebnisse der Verhandlungen und territoriale Fragen nur durch ein nationales Referendum entschieden werden können. Gilt das für die Halbinsel Krim?
Die Krim-Frage und das Völkerrecht
Warum ist die Krim eigentlich Teil der Ukraine? Gehörte sie nicht schon immer zu Russland? Seit über 250 Jahren? Ja schon, doch 1954 hat der Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, einen Teil des russischen souveränen Territoriums dem Staat Ukraine übergeben: die Krim.
Am 29. Februar 1954 dekretierte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die Übergabe der Krim an die Ukraine. War das ein völkerrechtlich legitimer Akt? Kann das Staatsoberhaupt eines Landes dem Staatsoberhaupt eines anderen Landes einen Teil des souveränen Staatsgebietes schenken?
Kann man ein Staatsgebiet einfach so verschenken?
Nach welchen völkerrechtlichen Prinzipien hat Chruschtchow die Krim "übergeben"? Haben die Bürger der Halbinsel damals darüber abgestimmt, ob sie damit einverstanden sind, sich von Russland zu trennen und Teil des ukrainischen Staatsgebietes zu werden? Haben sie die Krim daraufhin zu einem unabhängigen Staat erklärt, dessen Bürger den Anschluss an die Ukraine beantragten? – Nichts dergleichen ist geschehen!
Nach den Vorgaben des Völkerrechts muss eine Bevölkerung zur Abtrennung von einem bestehenden Staatsgebiet (oder von einer Staatenföderation) zumindest ihre Unabhängigkeit erklärenundeine Volksabstimmung durchführen. Doch hier befindet sich das Recht auf Selbstbestimmung der Völker im Konflikt mit dem Recht auf Unteilbarkeit des souveränen nationalen Staatsgebietes. Denn:
"Gemäß Völkerrecht Kapitel 1, Artikel 2 und Kapitel 6, Artikel 73 und 73/b steht der Wille der Völker über politischen Interessen des Staates oder der Staaten."
Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Krim von der Ukraine
Die völkerrechtswidrige Anbindung der Krim an die Ukraine bei Nicht-Berücksichtigung des Bevölkerungswillens rechtfertigt den Begriff der Zwangsintegration in diesen Staat. Seit der Auflösung der Sowjetunion entzündete sich daran eine permanente und sich stetig zuspitzende Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und der Krim, wobei letztere in wechselhaften Schritten eine Loslösung von der Ukraine und eine erneute Anbindung an die Russische Föderation bei Anerkennung der Eigenstaatlichkeit anstrebte. Sie bereitete dieses Ziel mit mehreren völkerrechtlichen Schritten vor:
Das Referendum vom 20. Januar 1991 für eine Autonome Republik im Bund der Staaten der Sowjetunion
Dieses Referendum der Krimbevölkerung beendete formal die Etappe der illegalen Schenkungssituation an die Ukraine, denn sein völkerrechtliches Gewicht beseitigt einen willkürlichen Verwaltungsakt. Auch dieser Vorgang verdeutlicht, dass die Krim-Bevölkerung schon seit langem aus der Zwangsintegration in die Ukraine ausbrechen wollte.
Im Jahre 1992 verabschiedete die Krim eine Verfassung der Eigenstaatlichkeit
Auf Druck der Ukraine musste diese Verfassung wenig später jedoch wieder zurückgenommen werden. Als Kompromisslösung erhielt die Krim dann den Status der einzigen autonomen Republik im Rahmen des ukrainischen Staates. Dieser Autonomie-Status wurde seitens der Krim-Bevölkerung als weitgehende Souveränität verstanden. In den darauffolgenden Jahren gab es mehrfach Konflikte um die Ausgestaltung des Autonomiestatus mit Kiew, in deren Verlauf die Bewohner der Halbinsel erneut die Verfassung von 1992 und damit die Unabhängigkeit forderten. Die Krim-Bevölkerung widersetzte sich dem Zwang zur Unterordnung unter die ukrainische Rechtsprechung und forderte die Anerkennung eigener Wahlen.
1994 stimmte die Krim in einer Volksabstimmung für eine erweiterte Autonomie und die Verfassung von 1992
Die Regierung und das Parlament in Kiew haben solche Schritte stets für verfassungswidrig erklärt und drohten auch mit dem Entzug des Autonomiestatus. Immerhin: Vor wenigen Tagen hat der heutige Präsident der Ukraine, Wladimir Selenskij, darauf hingewiesen, dass die Krim einen Autonomiestatus hatte.
2014 stimmten 96,77 Prozent der Krim-Bevölkerung gegen einen Verbleib in der Ukraine und für eine Angliederung an die Russische Föderation
Das überwältigende Ergebnis ist Ausdruck eines langjährigen, gewaltlosen Kampfes der Menschen auf der Krim für ihre Unabhängigkeit von der Ukraine, für ihre Autonomie und Eigenstaatlichkeit. Die Geschichte ihres Widerstands ist der Beweis dafür, dass das Referendum unabhängig von einem russischen oder sonstigen äußeren Einfluss zustande kam.
Auch die Ukraine nutzte das Instrument des Referendums zur Abtrennung von der Sowjetunion
Die Ukraine vollzog elf Monate nach dem ersten Referendum der Krim am 1. Dezember 1991 ein eigenes Referendum zur Loslösung von der Sowjetunion. Daran wird deutlich, dass die Ukraine die völkerrechtliche Bedeutung einer Volksabstimmung für eine territoriale Loslösung sehr wohl für sich instrumentalisierte, wenn das ihren Interessen entsprach. Die vorherige – einseitige – Unabhängigkeitserklärung und dieses Referendum der Ukraine bedeuteten die größte territoriale Sezession in der Geschichte Osteuropas und die faktische Auflösung der Sowjetunion, deren Verfassung Kiew bei diesem Vorgang bewusst gebrochen hat. Damit basiert die moderne Staatsgründung der Ukraine auf einem rechtlichen Modus, den sie bis heute der Krim verweigert.
Da die Ukraine für die eigene Abtrennung vom damaligen Zentralstaat (der Sowjetunion) ohne dessen Zustimmung eine Unabhängigkeitserklärung und ein Referendum als legales und legitimes Instrument anwendete, muss sie das gleiche Vorgehen auch für die Unabhängigkeit der Krim akzeptieren – gemäß dem internationalen Recht.
Kein Völkergewohnheitsrecht
Aufgrund der zahlreichen Unabhängigkeitsbestrebungen der Krim zur Loslösung von der Ukraine seit 1991 konnte sich kein Völkergewohnheitsrecht im Sinne der von beiden Seiten akzeptierten faktischen Verhältnisse entwickeln. Das Gewohnheitsrecht hätte den heutigen Gebietsanspruch der Ukraine unter diesem Gesichtspunkt rechtfertigen können. Für die Jahre des "Stillhaltens" der Krim-Bevölkerung während der Zeit der Sowjetunion gelten sicher die gleichen Gründe wie im Falle der Ukraine selbst, die erst elf Monate nach der Krim ihre Sezession mit einem Referendum durchsetzte. Die Ukraine hätte sicher weder ein Völkergewohnheitsrecht für ihre Zugehörigkeit zur Sowjetunion akzeptiert, noch deshalb auf ihre Loslösung verzichtet.
Die einseitige Unabhängigkeitserklärung im Völkerrecht
Am 11. März 2014 rief das gewählte Parlament der Halbinsel die Republik Krim als souveränen und von der Ukraine unabhängigen Staat aus und stimmte erneut für eine eigene Verfassung – ohne Erlaubnis der Zentralregierung in Kiew. Am 19. März wurde ein Referendum durchgeführt. Damit verwirklichte die Krim-Bevölkerung den bereits in seiner Verfassung von 1992 zum Ausdruck gebrachten kollektiven Wunsch nach Eigenstaatlichkeit. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung bestand schon seit über 20 Jahren eine staatliche Infrastruktur.
Die zu diesem Zeitpunkt existierende Zentralregierung in Kiew war jedoch nicht durch demokratische Wahlen legitimiert, sondern durch einen gewaltsamen Putsch an die Macht gekommen. Insofern hatten die Institutionen der Krim in diesem historischen Augenblick keinen legalen Ansprechpartner in der Rolle der Zentralregierung zur Verfügung.
Der Präzedenzfall Kosovo
Die einseitige Unabhängigkeitserklärung ohne Zustimmung des Zentralstaates ist ein im Völkerrecht umstrittenes Thema. Das kritikwürdige Gutachten des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag vom 22. Juli 2010 zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo hat allerdings einen Präzedenzfall geschaffen, der das Tor für Nachahmungen öffnete. Wenn zudem über 80 Staaten aufgrund politischer Interessen die einseitige Sezession des Kosovo anerkannten – die auf weitaus weniger soliden historischen Grundlagen beruhte als die der Krim –, dann haben sie dadurch auch eine Legitimation für die Krim und weitere Sezessionen auf der Welt geschaffen. Es gibt im Völkerrecht keine zweierlei Maßstäbe für die gleiche Thematik.
Der Vorwurf der russischen Annexion der Krim war und ist falsch
Auf der Krim ereigneten sich eine Unabhängigkeitserklärung, ein Referendum, eine Sezession und ein Beitritt zu einer Staatenunion. Das schließt eine Annexion aus, die nur bei einer mit militärischer Gewalt vollzogenen Landnahme durch einen fremden Staat besteht. Auch wenn die gewählte Regierung der Krim 2014 rechtswidrig (gegen die Verfassung der Ukraine) handelte, entsteht laut Völkerrecht dadurch keine Annexion, wie sie der Westen seitdem Russland kategorisch anlastet. Der Verfassungsbruch indes ist demjenigen der Ukraine bei ihrer Sezession und Neugründung durchaus ebenbürtig.
Die russische Militärpräsenz außerhalb des gepachteten Marinehafens von Sewastopol an den Tagen des Referendums
Zitat: "Die Zwangswirkung der russischen Militärpräsenz bezog sich weder auf die Erklärung der Unabhängigkeit, noch auf das nachfolgende Referendum. Sie sicherte die Möglichkeit des Stattfindens dieserEreignisse, auf deren Ausgang nahm und hatte sie (aber) keinen Einfluss. Adressaten der Gewaltandrohung waren nicht die Bürger oder das Parlament der Krim, sondern die Soldaten der ukrainischen Armee. Das ist der Grund, warum die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kasernen blockiert und nicht etwa die Abstimmungslokale überwacht haben. Was so verhindert wurde, war ein militärisches Eingreifen des Zentralstaats zur Unterbindung der Sezession."
Dieses Vorgehenrechtfertigt nicht den Begriff der Annexion. In keinem Fall kam es zu Gewaltakten zwischen den ukrainischen und russischen Soldaten. Wobei angemerkt sei, dass von den 18.000 auf der Krim stationierten ukrainischen Soldaten im Verlauf des Sezessionsprozesses 13.500 sich der russischen Armee anschlossen und nur 4.500 ihr freies Geleit in die Ukraine wahrnahmen.
Schlussfolgerungen
Alle juristischen und politischen Faktoren deuten in die gleiche Richtung: Die Halbinsel Krim war unter völkerrechtlichen Standards kein Teil des Staatsgebietes der Ukraine. Nach internationalem Recht war die sowjetische Schenkung der Krim an die Ukraine ein illegaler Akt – daran ist nicht zu rütteln.
Die westliche Welt, die im Kalten Krieg jahrzehntelang das System der Sowjetunion anprangerte, hat es bis heute geflissentlich versäumt, nach deren Auflösung solche ideologisch motivierten Relikte wie die Krim-Schenkung korrekt zu bewerten und entsprechend für illegal zu erklären. Wenn es zupass kommt, wie in diesem Fall, bescheinigt man der Sowjetunion auch im Nachhinein noch völkerrechtsmäßiges Handeln.
Alles in allem ist festzuhalten, dass die Bevölkerung der Krim und ihre staatlichen Institutionen die vorgeschriebenen Bedingungen des Völkerrechts für ihre Unabhängigkeit von der Ukraine erfüllt haben – obwohl sie nicht dazu verpflichtet gewesen wären. Denn diese Unabhängigkeit hat einen jahrhundertelangen Bestand und wurde auch nicht durch politische Scheinveräußerungen unterbrochen oder verändert. Das wissen alle Experten in Völkerrecht – in Kiew, Berlin, Brüssel und Washington.
Der Westen produzierte auf dieser Grundlage eine gigantische politische und historische Fälschung für eine irregeführte Welt, die heute Teil eines Krieges ist.
Insofern kann die Ukraine weder einen Teil ihres Territoriums abgeben, der ihr nie gehörte, noch hat es eine rechtliche Relevanz, ob sie die Unabhängigkeit und den Eintritt der Krim in die Russische Föderation anerkennt. Allerdings wäre dieses Eingeständnis politisch von enormer Bedeutung, um den anti-russischen Hasspredigern den Wind aus den Segeln zu nehmen.
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