Eine Analyse von Kirill Benediktow
"Wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Feinde auszusuchen, lasst uns wenigstens unsere Freunde auswählen", sagte der serbische Innenminister Aleksandar Vulin mit Verärgerung in der Stimme. Diese vielsagende Formulierung kam dem Minister über die Lippen, nachdem das Kosovo am 12. Mai einen Antrag auf Mitgliedschaft im Europarat gestellt hatte. Dieser anscheinend unschuldige Schritt erhöhte die Spannungen auf dem Balkan sofort um mehrere Grade.
Vjosa Osmani – Präsidentin der "teilweise anerkannten" Republik, die von den Amerikanern auf dem Territorium geschaffen wurde, das 1999 während dreimonatiger "humanitärer Bombardierungen" der Bundesrepublik Jugoslawien entrissen worden war – behauptet, dass das Kosovo "die Verkörperung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ist, also der Werte, auf denen der Europarat aufbaut." Auf dem Balkan ist man da jedoch anderer Meinung: Dort heißt es, das Kosovo sei eine grausame, kriminelle Enklave, von wo aus Drogen und Waffen nach ganz Europa fließen, wo mit menschlichen Organen gehandelt wurde – und wahrscheinlich immer noch wird –, ein Gebiet, das man ohne dringende Notwendigkeit besser nicht betreten sollte.
Für die Serben ist das Land der Amseln (wie das serbische Wort "Kosovo" übersetzt heißt) zudem eine offene, blutende Wunde. Dort leben weiterhin rund 100.000 Serben, obwohl deren Zahl stetig abnimmt: Die Kosovo-Albaner bedrohen und terrorisieren die Slawen, ekeln sie aus ihren Häusern hinaus, um das Kosovo in einen mononationalen "Staat" zu verwandeln. Und diese "Inkarnation der Demokratie " möchte nun Vollmitglied des Europarates werden und erklärt arrogant, dass "jeder Staat, der aufrichtig an die Werte des Europarates glaubt, die Mitgliedschaft des Kosovo in dieser Organisation unterstützen wird".
Obgleich sich das Verfahren selbst in die Länge ziehen könnte – der Antrag wird zunächst vom Ministerkomitee des Europarates gebilligt, anschließend finden Konsultationen mit PACE statt, und erst dann beginnen die Verhandlungen zwischen dem Ministerkomitee und der Regierung des Bewerberlandes –, gibt es für Pristina wenig Zweifel an einem glücklichen Ausgang. Die Annahme muss von zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten des Europarates befürwortet werden, und unter ihnen gibt es genügend Staaten, welche die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt haben und nichts gegen einen Beitritt zur "demokratischen Familie" einzuwenden hätten.
Das ist nicht nur eine Ohrfeige für Serbien, das ist ein demütigender Schlag ins Gesicht mit einem schmutzigen, nassen Lappen.
Seit Jahren wird das Land, das die NATO-Aggression überlebte, in das Bündnis gelockt – man müsse nur einfach ja sagen. Die überwältigende Mehrheit der Serben ist jedoch vehement dagegen – und das ist keine Überraschung. Denn die Erinnerung an die Bombardierungen von 1999 lebt fort. Indes erinnert die EU-Mitgliedschaft, von der sich viele Serben einen höheren Lebensstandard versprechen, an eine Karotte, welche die Brüsseler Bürokraten seit Jahren vor die Nase halten, um immer mehr Zugeständnisse zu bekommen. Und im Gegenzug dafür bezahlen sie nur mit Versprechungen. Dennoch muss man Serbien zugutehalten: Trotz seiner Zugeständnisse an die Herren der Europäischen Union in der einen oder anderen Frage ist seine Führung nie von zwei Schlüsselpositionen abgerückt: Serbien hat sich nie den Sanktionen gegen Russland angeschlossen und sich nie bereit erklärt, das Kosovo anzuerkennen, das gewaltsam enteignet und zunächst an internationale Friedenstruppen übergeben wurde, um dann 2008 unilateral seine "Unabhängigkeit" zu erklären.
Es gelang erst im letzten Jahr von Donald Trumps Präsidentschaft, die Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina zu verbessern, als er Richard Grenell zum Sonderbeauftragten für die Kosovo-Lösung ernannte. Dieser ist ein Diplomat und Geheimdienstoffizier, ein glühender Gegner des demokratischen Establishments, der über zwanzig Jahre lang alle Angelegenheiten auf dem Balkan im Griff hatte.
Das Washingtoner Abkommen zur Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo wurde zum jüngsten außenpolitischen Erfolg von Trump. In Washington und Brüssel hatte das Abkommen indes viele Gegner, die alles daran setzten, einen Kompromiss zwischen Belgrad und Pristina zu verhindern. Letztendlich aber haben Trump und Grenell den "Deep State" überlistet, und am 4. September 2020 wurde das Abkommen unterzeichnet. Zu den Verpflichtungen, die in diesem Dokument enthalten waren, gehörte Folgendes: Unter anderem würde Belgrad ein Jahr lang seine Bemühungen aussetzen, andere Staaten davon zu überzeugen, das Kosovo die Anerkennung zu entziehen; und Pristina würde sich bereit erklären, während ebendieser Zeit keine neuen Anträge auf Mitgliedschaft in internationalen Organisationen zu stellen.
Wahrscheinlich gäbe es eine automatische Verlängerung dieser Verpflichtung um mindestens ein weiteres Jahr, wenn Trump für eine zweite Amtszeit im Weißen Haus geblieben wäre. Doch als man Trump den Wahlsieg stahl, machte sich die neue demokratische Regierung eifrig daran seine "Fehler" zu "korrigieren".
Zuerst forderte US-Präsident Joe Biden Serbien und das Kosovo auf, ihre Beziehungen zu normalisieren – und zwar auf der Grundlage der "gegenseitigen Anerkennung". Als sei dies nicht die verdammte Frage, die den Dialog zwischen Belgrad und Pristina all die Jahre behindert hat! Doch die demokratische US-Regierung machte deutlich, sie wolle keine "Normalisierung" ohne Anerkennung des Kosovo. Das blutige Geschäft, mit dem der Demokrat Bill Clinton begonnen hatte, musste mit allen Mitteln vollendet werden. Der hässliche kosovarische Homunkulus, vom Pentagon und Langley auf den Ruinen des zerstörten Jugoslawiens gezüchtet, hat sich in einen von Steroiden aufgepumpten Schläger verwandelt, der das benachbarte Serbien aggressiv anpöbelt.
Ein paar Monate nach dem Regierungswechsel in Washington wurde einer der Unterzeichner des Washingtoner Abkommens, Avdulla Hoti, durch den Hardliner Albin Kurti ersetzt. Sofort erklärte dieser, der Dialog mit Belgrad habe für ihn keine Priorität. Und er ließ seinen Worten auch schnell Taten folgen: Der neue Premierminister verbot zeitweise die Einfahrt von Fahrzeugen mit serbischen Kennzeichen ins Kosovo, entsandte Spezialeinheiten in kosovo-serbische Städte und Dörfer, angeblich um die Korruption zu bekämpfen, oder verbot den Einwohnern die Teilnahme am Referendum und den serbischen Wahlen. Zwar löste jeder dieser Vorfälle in Belgrad Empörung aus, doch wurden dort keine wirklichen Gegenmaßnahmen ergriffen. Zum einen aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen Pristinas gegenüber den serbischen Enklaven, und zum anderen, weil die Leine, deren Ende in Brüssel liegt, stets fest angezogen wurde. Serbien wurde unablässig daran erinnert, es müsse, wenn es der EU beitreten wolle, stets daran denken: Was Pristina erlaubt ist, ist Belgrad nicht erlaubt.
Doch die Bewerbung des Kosovo um die Mitgliedschaft im Europarat scheint der Geduld der serbischen Behörden ein Ende zu setzen.
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić erklärte, Pristina habe mit seiner Demarche das Washingtoner Abkommen "brutal zertrampelt und zerstört", und setzte für den 13. Mai eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates des Landes an.
Noch härter äußerte sich Vulin:
"Wenn Pristina Mitglied des Europarates wird, muss Serbien politische Neutralität erklären – so wie man den Krieg erklärt."
Und Vulin, der eher als einer der radikaleren Politiker im Vergleich zum vorsichtigen Vučić gilt, fügte hinzu, eine Abstimmung über den Antrag Pristinas auf Mitgliedschaft im Europarat würde zeigen, was die Mitglieder der Europäischen Union wirklich von Serbien halten:
"Wir müssen keine weiteren zwanzig Jahre warten, um herauszufinden, ob die EU Serbien als Mitglied sehen möchte. Es wird genügen, für oder gegen die Aufnahme eines Territoriums in eine Organisation zu stimmen, die aus Staaten besteht. Heute haben wir die Gelegenheit, zu sehen, was das Wort der Vereinigten Staaten wirklich taugt."
Bekanntlich arbeiten die USA seit dem Beginn der militärischen Operation in der Ukraine hart daran, Belgrad zu zwingen, sich den antirussischen Sanktionen anzuschließen. Solchem Druck ist nicht leicht standzuhalten – und in Serbien selbst befürchten viele, dass Vučić, dessen Vorliebe für "Multivektorismus" bekannt ist, schließlich doch unter der schweren Hand Washingtons einknicken wird.
Der serbische Präsident selbst mahnte in seiner Ansprache an die Nation am 6. Mai, man werde von Belgrad die dringende Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo verlangen, um dem russischen Präsidenten ein wichtiges Argument im Streit um die Rechtsgültigkeit der Anerkennung der DVR und der LVR zu entziehen. Der serbische Staatschef sagte:
"Sie wissen, das Gerede über juristische Präzedenzfälle ist nicht naiv. Sie sagen, sie wollten einen Völkermord verhindern – Putin sagt auch, er wolle einen Völkermord verhindern. Die Argumentation ist nicht schwach. Doch der gesamte Westen verlangt nun von Serbien die sofortige Anerkennung des Kosovo, um Putin zu beweisen, dass es kein Präzedenzfall ist."
Und mit Hinblick auf die Sanktionen fügte Vučić hinzu:
"In der Frage der Sanktionen gegen Russland wird Serbien von seinen eigenen Interessen ausgehen."
Nach dieser Äußerung befürchteten viele Experten: Was wenn Vučić sich von Putin gekränkt fühlt, weil der sich auf das Beispiel Kosovo beruft, und deshalb aus "Gefälligkeit" den antirussischen Sanktionen der EU zustimmt?
Außerdem gießt die stellvertretende Ministerpräsidentin Serbiens, Zorana Mihajlović, Öl ins Feuer, indem sie Russland als "Bedrohung der Idee eines freien und geeinten Europas" bezeichnet. Großmäulige Mitglieder der regierenden serbischen Fortschrittspartei sind ebenfalls verstärkt aktiv geworden: Sie sprechen bei der amerikanischen Botschaft so häufig vor, als wären sie dort angestellt.
Einer dieser "Patrioten", Dragan Šormaz, sagte:
"Serbien sollte Teil der modernen, freien, demokratischen und technologisch fortschrittlichen euro-atlantischen Welt sein. Alles andere ist eine Lüge und ein Betrug. Die Bürger werden uns verstehen. Die Wahl ist zwischen unserem Platz in Europa und der von Rückständigkeit und Armut geprägten asiatischen Despotie."
Deshalb sei der Beitritt zu den antirussischen Sanktionen in Serbiens eigenem Interesse, so Šormaz.
Natürlich haben sowohl das russische Außenministerium als auch der russische Botschafter in Serbien, Alexander Bozan-Chartschenko, wiederholt versichert, dass Russland keinen Millimeter von seiner Position in der Kosovo-Frage abgewichen ist; es tritt für eine einvernehmliche Lösung zwischen Belgrad und Pristina auf der Grundlage der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates ein, und Moskau wird nur die Lösung akzeptieren, der die Serben selbst zustimmen. Doch auf der anderen Seite – aus Washington und Brüssel – ist der Druck auf Belgrad stetig gewachsen. Die Beteiligung Serbiens an den antirussischen Sanktionen schien nicht mehr so unwahrscheinlich, wie es noch anderthalb Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen der Fall war.
Und plötzlich kam die Joker-Karte des Kosovo ins Spiel.
"Entweder wird Pristina bestraft und gestoppt, oder alle erkennen, dass jede Lüge gegen Serbien erlaubt ist und dass es für Serben weder Recht und noch Gerechtigkeit gibt", ist in der Erklärung des Ministers Vulin zu vernehmen. Selbstverständlich wird niemand Pristina bestrafen oder aufhalten, da es von Washingtoner Demokraten und Brüsseler Bürokraten unterstützt wird – und der Minister ist sich dessen wohl bewusst.
Der Antrag Pristinas auf Mitgliedschaft im Europarat erschien auf dem politischen Schachbrett zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt für diejenigen, die Belgrad und Moskau verfeinden wollten – und genau zum richtigen Zeitpunkt für jene serbischen Politiker, die Russland wirklich lieben und die Zukunft ihres Landes in einem Bündnis mit der Großmacht im Osten sehen. Und genau das meinte Aleksandar Vulin, als er sagte: Wenn Serbien seine Feinde schon nicht frei wählen könne, so sollte es wenigstens seine Freunde auswählen.
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Kirill Benediktow ist Politologe und Autor der politischen Biographie über Donald Trump "Der schwarze Schwan".