Die nordischen Länder Finnland und Schweden sind seit 1995 vollwertige Mitglieder der Europäischen Union (EU). Zudem sind sie auch Mitglieder der Northern Group, eines informellen Kooperationsformats, das NATO-Mitglieder, die an die Ost- oder Nordsee angrenzen, zusammenbringt und gemeinsame Verteidigungsprojekte in der Region entwickeln soll. Neben Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark und Island gehören auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zur Nordgruppe. Weitere Mitgliedsstaaten sind Polen, die Niederlande, Großbritannien und Deutschland.
Auf der Seite des Deutschen Verteidigungsministeriums (BMVg) heißt es zu einem Treffen der Mitgliedsstaaten der Northern Group im Jahre 2020:
"Bei den Treffen der Northern Group kommen die Verteidigungsminister aller skandinavischen und baltischen Staaten sowie Großbritanniens, Polens, der Niederlande und Deutschlands zusammen, um sich zu aktuellen, vor allem Nordeuropa betreffenden, sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen auszutauschen. Die Minister haben über Fähigkeitserhalt, die Einsatzbereitschaft sowie die Wiederaufnahme militärischer Übungen unter Berücksichtigung entsprechender Schutzmaßnahmen beraten."
Das Meeting im Jahre 2020 bezog sich auf die Ereignisse rund um die Corona-Krise. Mit Beginn der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine rückt nun die regelmäßige Diskussion eines NATO-Beitritts Finnlands und Schwedens erneut in die Debatte außenpolitischer Sicherheitsfragen der EU-Staaten. Die sich anbahnende Norderweiterung der NATO durch einen finalen Beitritt Finnlands würde je nach Blickwinkel der Betrachtung zumindest eine epochale Grenzverschiebung westeuropäischer Militärmächte darstellen, eine weitere Variante der NATO-Osterweiterung manifestieren. Die gemeinsame Grenze mit der NATO würde sich damit um ganze 1.300 Kilometer im unmittelbaren Kontakt zu Russland verlängern.
Die Pläne Finnlands und Schwedens, sich enger an die Seite der NATO und der USA zu positionieren, erfolgte schon im Jahr 2018. Das Thema Ukraine war auch zu diesem Zeitpunkt schon Bestandteil zukünftiger Kooperationen. Ein Artikel der Seite Marine Corps Times erläuterte im September 2018:
"Im Mai unterzeichneten sowohl Finnland als auch Schweden ein Schreiben an die USA, in dem sie sich verpflichteten, ihre Sicherheitsbeziehungen auszubauen, z. B. durch verstärkte Übungen und Ausbildungsmaßnahmen. (...) Der Vorstoß für formellere Beziehungen zu den USA war eine Reaktion auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine 2014."
Im Jahre 2020 informierte Marine Corps Times über massive finnische Etat-Erhöhungen im Militärsektor:
"Das 1,5 Milliarden Dollar teure Programm 'Geschwader 2020' der finnischen Marine nimmt vor dem Hintergrund einer Ostsee-Anbindung Gestalt an, die eines Tages Schauplatz eines militärischen Konflikts zwischen Russland und der NATO werden könnte. Die geplante Anschaffung eines neuen Boden-Luft-Systems durch das finnische Militär steht ebenfalls im Zusammenhang mit dem Programm 'Geschwader 2020'."
Im Juni 2021 hielten sich für vier Wochen auf dem finnischen Luftwaffenstützpunkt Rissala in der Region Karelien zu Übungszwecken F/A-18 Hornet-Mehrzweckkampfflugzeuge des United States Marine Corps (USMC) und US-KC-130-Tank- und Transportflugzeuge auf Geschwaderebene auf. Karelien ist eine historische Landschaft in Nordosteuropa, die sich in finnische wie auch russische Bereiche aufteilt. Im Dezember 2021 informierte die Seite Flug Revue:
"Finnland bestätigt den Kauf der F-35 Lightning. Die finnischen Luftstreitkräfte erhalten 64 F-35A-Mehrzweckkampfflugzeuge des nächsten Standards Block 4, ein robustes Waffenpaket, eine auf Finnlands besondere Anforderungen an die Versorgungssicherheit zugeschnittene Instandhaltungslösung sowie ein umfassendes Schulungsprogramm."
Lieferant ist das US-amerikanische Rüstungsunternehmen Lockheed Martin. Der Auftrag hat einen Wert von rund 8,378 Milliarden Euro. "Die Offsetaufträge sind auf über 20 Jahre angelegt, und die Wartungsarbeiten für die F-35 werden bis in die 2070er Jahre andauern," sagte Bridget Lauderdale, Vizepräsidentin und Geschäftsführerin des F-35-Programms bei Lockheed Martin, so Informationen der Flug Revue.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg offerierte nun nicht überraschend den Regierungsleitern Finnlands und Schwedens Mitte März unkomplizierte Regularien für einen schnellen NATO-Beitritt beider Staaten. Durch die politische Sprech-Blume formuliert, lautete die Aufforderung mit einem eindeutigen Hinweis an die NATO-Mitgliedsstaaten:
"Beide Länder erfüllen die Standards des Verteidigungsbündnisses. Wenn sie sich für einen Antrag entscheiden, erwarte ich, dass alle Verbündeten sie willkommen heißen werden."
Ein Beitrittsgesuch muss von allen 30 NATO-Mitgliedern einstimmig angenommen werden. Am 13. April titelte die Wirtschaftswoche: "Finnlands Ministerpräsidentin rechnet mit einer zügigen Entscheidung über eine NATO-Mitgliedschaft ihres Landes." So heißt es im Artikel:
"Sie gehe davon aus, dass ein Beschluss Wochen, nicht Monate entfernt sei, sagte Marin am Mittwoch während eines Besuchs bei der schwedischen Regierungschefin Magdalena Andersson in Stockholm. Wichtig sei, in sicherheits- und außenpolitischen Fragen einen so breiten Konsens wie nur möglich zu erreichen."
Nach Einschätzung Marins habe sich die "europäische Sicherheitssituation durch Russlands Angriff auf die Ukraine fundamental verändert". Den Unterschied zwischen einem Partner und einem Mitglied des NATO-Militärbündnisses erklärte sie der Presse mit der Erkenntnis:
"Nichts biete solche Sicherheitsgarantien wie der NATO-Artikel 5, in dem sich die NATO-Staaten gegenseitig Beistand im Fall eines Angriffs zusichern. Es beinhalte beides Risiken: Wenn man eine Aufnahme beantrage oder wenn man dies nicht tue."
Artikel 5 des Nordatlantikvertrages aus dem Jahre 1949 besagt:
"Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten."
Laut dem Handelsblatt steht der anvisierte "Fahrplan" bereits fest. Demnach soll am "12. Mai Finnlands Präsident Sauli Niinistö seine Einstellung zu einem finnischen NATO-Beitritt verkünden". In Finnland hat der Präsident weitreichende Befugnisse in der Außen- und Sicherheitspolitik. Neben der Tatsache einer zukünftigen unmittelbaren weiteren Grenznähe zu dem "Aggressor Putin" kann die NATO sich bezugnehmend auf finnische Daten durch "23.000 Berufssoldaten und 280.000 Wehrpflichtigen deutlich verstärken", so die Angaben des Handelsblatts. Außerdem verfüge das Land "über 870.000 Reservisten".
Am Dienstag waren die Regierungschefinnen Finnlands und Schwedens, Sanna Marin und Magdalena Andersson, zu Gast bei der Klausurtagung des Bundeskabinetts in Meseberg bei Berlin. Die Süddeutsche Zeitung titelte dazu: "Finnland und Schweden in der NATO? Fände die Bundesregierung gut". Marin wird in den finnischen Medien mit den Worten zitiert, dass das Treffen "einzigartig" sei, der Zeitpunkt "perfekt" und es gebe eine "tiefe Verbindung" zwischen den Ländern, so die Zeitung Helsingin Sanomat. Zum Thema eines gemeinsamen NATO-Beitritts mit Schweden wird der Satz der finnischen Regierungschefin kolportiert:
"Jetzt müssen wir gemeinsam mutig sein".
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