Am 19. April informierte der polnische Gesundheitsminister Adam Niedzielski auf seinem offiziellen Twitter-Account über folgende Entscheidung seines Ministeriums:
"Wir haben die Europäische Kommission und Pfizer darüber informiert, dass wir die Annahme weiterer COVID-19-Impfstoffe ablehnen und keine Zahlungen dafür leisten werden."
Genauere Erläuterungen und Details gab der polnische Gesundheitsminister im Rahmen der Sendung Rozmowa Piaseckiego auf dem Sender TVN24 bekannt. Ausschlaggebend für die Entscheidung der polnischen Regierung seien die Situation mit der Flüchtlingswelle aus der Ukraine und insbesondere die damit verbundenen finanziellen Belastungen. Niedzielski wies in der Sendung darauf hin, dass – angesichts der aktuellen Konfrontation Polens mit einer Flüchtlingswelle – "wir das Recht haben, von der Europäischen Kommission die Schaffung spezieller Instrumente für diesen Fall zu erwarten". Der Minister erläuterte das gegenüber TVN24 so:
"Wir wollten die Verträge für die Lieferung von COVID-19-Impfstoffen über einen längeren Zeitraum verteilen, aber die Hersteller sind nicht flexibel. Deshalb haben wir letzte Woche von der Klausel der höheren Gewalt Gebrauch gemacht und weigern uns, Impfstoffe anzunehmen und Zahlungen zu leisten."
Nach dem Zivilgesetzbuch sei unter "höherer Gewalt" ein äußeres Ereignis zu verstehen, das "nicht vorhersehbar ist und nicht verhindert werden kann."
Der Sprecher der EU-Kommission Stefan De Keersmaecker reagierte auf diese Vorwürfe in einer ersten Stellungnahme in Brüssel mit der Erläuterung:
"Die EU-Staaten sind an ihre Verpflichtungen aus dem Impfstoffvertrag gebunden, aber die Europäische Kommission hat natürlich Verständnis für die schwierige Situation, in der sich Polen befindet."
Des Weiteren würde die EU-Kommission versuchen, die erforderlichen Gespräche zwischen der polnischen Seite und dem Unternehmen Pfizer "zu erleichtern, um eine pragmatische Lösung für diese besondere Situation zu finden, mit der das Land konfrontiert ist", lauten die Informationen von TVN24.
Ganz ungeachtet der besonderen Flüchtlingssituation hat die jüngste Entscheidung Polens auch gesundheitspolitische Aspekte. Polen hat aktuell eine Impfquote von 59,3 Prozent erreicht. Nach Angaben des polnischen Gesundheitsministeriums sind 51 Prozent der 38 Millionen Polen vollständig geimpft, jedoch haben 59 Prozent bisher nur eine erste Dosis erhalten. Niedzielski teilte in dem Interview auch mit, dass Polen daher bereits damit begonnen hatte, vorrätige Impfstoffe "an Länder zu spenden oder weiterzuverkaufen". Es sei dem Land dadurch gelungen, "fast 30 Millionen dieser Präparate zu spenden oder zu verkaufen", so der Minister gegenüber TVN24. So verkaufte Polen schon im August 2021 eine Million Dosen BioNTech-Impfstoff an Australien. Drei Millionen BioNTech-Dosen fanden im Dezember 2021 sogar ihren Weg von Polen zurück nach Deutschland.
Niedzielski ergänzte seine Erläuterungen mit der Feststellung, dass sich die weltweite pandemische COVID-19-Situation wesentlich geändert habe. Dadurch existiere derzeit gar "kein größerer Bedarf an Corona-Impfstoffen". Laut TVP.info informierte der Minister darüber, dass Polen "noch auf 25 Millionen ungenutzter Impfdosen sitze, während bereits 67 bis 70 Millionen weitere Dosen" bestellt wurden. TVN24 zitiert Niedzielski mit seiner Darlegung der grundsätzlichen vertraglichen Mängel:
"Wir haben uns sowohl an die Europäische Kommission als auch an die wichtigsten (...) Impfstoffhersteller gewandt, um diese Lieferungen, die in so großer Zahl in den nächsten Quartalen geplant waren, zeitlich einfacher zu verteilen, um uns eine größere Flexibilität, eine größere Freiheit bei diesen Verträgen zu geben, die wir abgeschlossen haben.
Leider sind wir hier auf einen völligen Mangel an Flexibilität seitens der Produzenten gestoßen. Es gab keine Situation, in der wir die Bedingungen dieses Vertrags ernsthaft hätten ändern können, und dieser Vertrag wurde in einer Krisensituation unterzeichnet. Man könnte sagen, dass wir in diesem Vertrag nicht so viel Entscheidungsfreiheit haben."
Er verwies auf die Tatsache, dass der geltende EU-Vertrag mit den Impfstoff-Herstellern "uns weitgehend die Hände gebunden hat", und kommentierte ergänzend, dass dies nun "ernsthafte finanzielle Belastungen" angesichts der aktuellen Ereignisse für die polnische Regierung darstelle. Nach Angaben des Gesundheitsministers belaufe sich der Umfang derzeitiger Verträge für Impfstoffe auf mehrere Milliarden Złoty: "Unser Vertrag mit nur einem Unternehmen beläuft sich auf sechs Milliarden Złoty bis Ende 2023, und in diesem Jahr sind es mehr als zwei Milliarden Złoty." Auf die Frage, ob die nun verkündete Entscheidung Polens "die Beendigung des Vertrags bedeute", antwortete der Leiter des Gesundheitsministeriums dem Sender TVN24:
"Dieser Vertrag hat eine besondere Konstruktion, denn ich möchte Sie daran erinnern, dass es sich um einen Vertrag zwischen der EU-Kommission und den Herstellern handelt, dass es in Wirklichkeit keine Möglichkeit der direkten Kündigung gibt, weil wir keine direkte Partei sind. Dies ist eine Erklärung, die über unser weiteres Vorgehen Auskunft gibt."
Die Entscheidung des polnischen Gesundheitsministeriums, in Absprache mit der polnischen Regierung, stößt in Polen teils auch auf Kritik. Laut TVP.info befürchtet Dr. Paweł Grzesiowski als offizieller Experte der polnischen Obersten Ärztekammer:
"Ich befürchte, dass die einseitige Entscheidung Polens, ein Abkommen zu kündigen, das in gewisser Weise ein innerhalb der Europäischen Union vereinbartes Abkommen war, sehr nachteilig für uns sein könnte. Denn es zeigt, dass Polen kein verantwortungsbewusster Partner ist und solche Entscheidungen im Alleingang trifft, anstatt sich mit den anderen Ländern abzustimmen, die ja an diesem gemeinsamen Kauf beteiligt waren.
Wir sollten bedenken, dass die Anwälte der Pharmaunternehmen die Vereinbarungen sicherlich sehr genau prüfen werden. Wenn es dort Klauseln gibt, die für uns ungünstig sind, bedeutet das zum Beispiel, dass Polen einige Strafen zahlen muss, wenn es einseitig aus dem Abkommen aussteigt."
Laut der polnischen Juristen-Fachseite Prawo.pl hätte Niedzielski genau dies bereits angedeutet: "Die Folge davon wird ein Rechtsstreit sein, der bereits im Gange ist." Michał Dworczyk, Leiter des Büros des polnischen Premierministers, wies seinerseits laut Prawo.pl darauf hin, dass "die Hersteller wahrscheinlich auf Gewinnmaximierung ausgerichtet waren und sind und dass wir deshalb einen Streit haben, der hoffentlich zu einer – aus polnischer Sicht – positiven Lösung führen wird."
Das Unternehmen Pfizer erklärte in einer ersten Reaktion laut Reuters.com bereits, dass "die Vereinbarung über die Lieferung des Impfstoffs COVID-19 an die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mit der EU-Kommission getroffen wurden" und ergänzte hinsichtlich der Brisanz des polnischen Vorstoßes:
"Unsere Gespräche mit den Regierungen und die Einzelheiten der Impfstofflieferungen sind vertraulich."
Pfizers deutscher Partner BioNTech reagierte laut Reuters lediglich mit dem Hinweis, dass "Pfizer für die Handelsbeziehungen mit Polen zuständig sei".
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